Eine Leica IIIb in der Mitte, deren Produktion zur Zeit des Berichts 1946 beendet war, flankiert von zwei Vorkriegs-Leica III Modellen. Die IIIb wurde 1936 vorgestellt, es wird gemunkelt, dass 1946 eine letzte Charge von 600 Stück hergestellt wurde. Die IIIc wurde 1940 eingeführt und 1946 in das „nicht gestufte“ Format geändert (es handelt sich um eine kleine Stufe unter dem Rückspul-Freigabehebel). Die IIIc wurde bis 1951 produziert. (Foto William Fagan)

Vorbemerkung des Übersetzers: Der Zufall will es so, dass kurz nach meinem Blog über die aktuelle Lage im Leitz-Park mein Kollege Mike einen historisch äusserst interessanten Bericht aus dem Jahr 1946 ausgegraben hat. Die englische Original-Version des Artikels findet sich auf Macfilos.

 

The „Leica“ Camera 1946: Ein Bericht britischer Inspektoren

„Die Leitz-Werke sind eine gut geführtes, glückliches Unternehmen, geschuldet in nicht geringem Maße der familiären Struktur des Betriebs und seiner Bedeutung für die Umgebung. Die Disziplin ist straff ohne zu streng zu sein und man hat den Eindruck, dass Angestellte jeder Gehaltsstufe hoch motiviert sind, ihre Arbeit auszuführen.“

Das ist der Beginn der Zusammenfassung eines Berichts über die Leitz-Werke aus dem Jahr 1946, erstellt durch das „British Intelligence Objectives Sub-Committee“. Eine Gruppe von vier Leuten, den Herren Big, Cantle, Tyler und Sturrock untersuchten die Leitz-Werke am 19.,21. und 22. November des Jahres. Sie wurden von Ernst Leitz (Senior, dem Vorstandsvorsitzenden), Ludwig Leitz (dem Technischen Direktor) und Dr. Dumar (dem Geschäftsführer) in Empfang genommen. Ausserdem  „diversen Mitgliedern der technischen Abteilung von E.Leitz“.

 

Entspannt

Leica Camera 1946
Mit einem Duplikator vervielfältigt und grob gebunden: Der offizielle Bericht über die Leitz-Werke 1946 gibt einen faszinierenden  Einblick in die damaligen Verhältnisse

Es scheint, dass die Atmosphäre recht entspannt war: „Wir erhielten alle erdenkliche Unterstützung von diesen Personen und einen erheblichen Anteil Hilfe von Dr. Dumar.“

Wetzlar war Ende 1946, nur 19 Monate nach der Kapitulation, unter US-Administration als Teil der amerikanischen Zone Westdeutschlands. Die Alliierten untersuchten die deutsche Industrie systematisch, vorgeblich in erster Linie, um die Möglichkeiten des Wiederaufbaus abzuschätzen. Aber zum Teil auch, um deutsches Know-How zu erwerben, Industriegüter billig zu ergattern oder, wie in manchen Fällen,  gleich ganze Fabriken für den eigenen Gebrauch komplett zu demontieren.

Hervorzuheben ist zum Beispiel Volkswagen. Um ein Haar wäre das Unternehmen zu einer britischen Firma geworden, da Wolfsburg im britischen Sektor lag. Bekanntermassen wurde die Fabrik als Reparation angeboten. Anschliessend entschied eine Delegation, angeführt von Sir William Rootes, Chef der „Rootes Motor Company“, dass Volkswagen keinen Pfifferling wert sei. Es wird berichtet, dass er zu dem Schluss kam, der Käfer sei „zu hässlich und zu laut“. Wir wissen alle, was daraus geworden ist. „Rootes wer?“, kann man wohl heute zu Recht fragen.

Solche Faxen gab’s in Wetzlar nicht, wie man aus dem unparteiischen Bericht der britischen Kontrolleure ersehen kann. Sie erkannten die weltweite Bedeutung des deutschen Herstellers und erwarteten, dass er seinen gebührenden Platz in der Welt wieder einnehmen würde. Die Zusammenfassung des Berichts von 1946 fährt fort:

 

Weltruf

„Der Stolz auf die Handwerkskunst und das Bewusstsein um den Weltruf der Firma für Qualitäts-Arbeit, dieser Geist durchdringt alle und trägt nicht unerheblich zur Überwindung der Apathie und Resignation bei, die zur Zeit aufgrund des trostlosen Zustandes des ganzen Landes herrschen.“

„Die Produkte der Leitz-Werke sind denen vor dem Krieg gleichwertig, wenn auch aufgrund der schlechten Rohmaterial-Lage insbesondere bei Farben und Lacken das Finish zu wünschen übrig lässt.“

„Das Team kommt zu dem Schluss, dass die Leica Kamera immer noch ihre herausragende Position verdient und dass das Geschick der Handwerker in den Leitz-Werken offensichtlich ist.“

Der mit einem Duplikator (mit Mimeographie) vervielfältigte Bericht (der von His Majesty’s Stationary Office für den Preis von zwei Shilling oder 10p in neuer Währung veröffentlicht wurde) geht auf die Beschaffenheit der Fabrik-Gebäude und die Produkte detailliert ein:

Leica Camera 1946
Zur Zeit der Inspektion ersetzte die Leica IIIc das Modell IIIb, welches 1936 eingeführt worden war. Der Kenner jedoch, vielleicht bewaffnet mit dem „Leica Pocket Book“, wird feststellen, dass es sich um ein Exemplar aus dem Jahr 1950 handelt, ungefähr zur Zeit der IIIf, etwa ein Jahr, bevor die Produktion endete. Trotzdem ist dies Kamera identisch zu der, die das Inspektions-Team in Händen gehalten haben muss. (Foto Mike Evans)

„Die Firma Leitz produziert nun das Modell Leica IIIc, eine dem Modell IIIb überlegene Weiterentwicklung. Das Modell IIIc unterscheidet sich von IIIb in diversen Punkten, obwohl es in der Funktion ähnlich ist. Es ist etwa 1/8 Zoll länger, hat eine Deckplatte, in der der Messsucher integriert ist und das Gehäuse besteht aus einem Druckguss-Teil, dass zusammen mit den ebenfalls aus Druckguss bestehenden Deck- und Bodenplatten ein vollständiges Chassis für die anderen Komponenten der Kamera bilden. In den späteren Modellen ist der Schlitz-Verschluss kugelgelagert.“

 

Handwerkskunst

Der Bericht lobt die Handwerkskunst bei Leitz ausdrücklich, obwohl die Arbeitskraft pro Angestellten nur bei 50-60% des Vorkriegs-Niveaus lag. Das schrieben die Berichterstatter den Auswirkungen des Krieges, sowie dem Mangel an Nahrung und anderen Konsumgütern zu.

Die Herstellungsmethoden werden minutiös beschrieben, etwa der Zusammenbau der Komponenten und wie man den Seidenglanz-Finish der Gehäuse erzielt. Alles sehr interessant, aber zu detailliert, um es in diesem Artikel wiederzugeben. Aber weiter unten findet sich ein Link zum Scan des kompletten Berichts.

Es gibt allerdings einen faszinierenden Diskurs über Lohnkosten. Von den 5000 Angestellten vor dem Krieg hatte sich die Zahl 1946 halbiert. Die Autoren konstatieren, „dass es sehr offensichtlich war, wie wenig Männer zwischen 20 und 40 es gab, natürlich wegen des Krieges. Von den Leitz-angestellten, die zur kämpfenden Truppe kamen, waren 400 gefallen und weitere 300 immer noch in Kriegsgefangenschaft.“

Vor dem Krieg hatte sich Leitz mit der „Mini-Film-Kamera“ einen beneidenswerten Ruf geschaffen. Diese Foto ist mit einer Leica III von 1935 gemacht und zeigt eine zeitgenössische Brough Superior mit Beiwagen. (Foto Mike Evans)

Lohn

Das Lohn-Niveau war praktisch gleich dem vor dem Krieg, aber nach damaligem britischen Standard sehr niedrig. Das war kein Witz. Ein gelernter männlicher Angestellter verdiente 1,72 Pfennig pro Minute oder 1,03 RM (Reichsmark, 1946 natürlich vor der Währungsreform) pro Stunde, ein ungelernter Arbeiter brachte 72 Pfennig pro Stunde nach Hause.

Die Währungsreform von 1948 ermöglichte es Leitz, die Marke nach dem Krieg wieder aufzubauen. Diese Buch verfolgt die Werbung der Firma über 25 Jahre. Es ist noch gebraucht zu erwerben.

Es ist schwierig, das in Beziehung zu den alliierten Währungen der Zeit zu setzen. Bis in die letzten Kriegsjahre war der Wechselkurs etwa 11 RM für das britische Pfund gewesen. Das war während des größten Teils der 50er und 60er Jahre auch der allgemein anerkannte Kurs für die Deutsche Mark. Allerdings führte eine zunehmende Inflation von den letzten Kriegstagen bis zur Währungsreform 1948 dazu, dass es praktisch nur Tauschhandel gab, die sogenannte „Zigarettenwährung“. Die Einführung der DM gebot der Inflation Einhalt und war zu einem erheblichen Teil Katalysator für das anschliessende „Wirtschaftswunder“.

Ich stellte fest, dass 1946 der offizielle Militär-Wechselkurs 40 Reichsmark für’s britischen Pfund und 10 RM für den US-Dollar war. Das ist sicherlich nur eine schwaches Abbild der Realität, aber das bedeutete, dass ein gelernter Handwerker 0,05€ pro Stunde verdiente und ein ungelernter Arbeiter magere 0,02€. Ich nehme mal an, dass sich die Verhältnisse bei Leica mittlerweile etwas geändert haben.

 

Kamerapreise

Der Kamerapreis war für die Kontrolleure ebenfalls von Interesse. Es wird erwähnt, dass der Preis für die Leica IIIc im Satz mit dem 5cm f/3.5 Elmar 40% höher war als bei Ausbruch des Krieges. Dem Bericht zufolge war 1946 der Ladenpreis für diese Kombination 546,60 RM. Legt man den Militär-Wechselkurs zugrunde, würde das bedeuten, dass man die Kamera für attraktive £14 erwerben konnte, etwa 3-4 Wochen Arbeitslohn für einen britischen Arbeiter zu der Zeit.

Aber so einfach war das nicht. Ich fragte meine deutschen Kollegen Claus Sassenberg nach seiner Einschätzung. Seiner Meinung nach ist der erwähnte Verkaufspreis von 546 RM reine Fantasie, ein Produkt politischer correctness oder Wunschdenkens. Keiner hätte zu der Zeit diese Kamera für Reichsmark bekommen, die Preisliste war bestenfalls von akademischen Interesse.

Aus diesen Gründen und auch wegen offizieller Einschränkungen waren Leicas nur schlecht zu bekommen. Vom monatlichen Ausstoß von 1100 Einheiten gingen 89% an die amerikanischen Streitkräfte, 6% an die Franzosen und 5% war für den deutschen Handel vorgesehen. Ein kleiner Teil des amerikanischen Quota „stand den britischen Streitkräften im Austausch gegen Rolleiflex-Kameras zur Verfügung„, obwohl ich mich frage, woher wohl die Rolleiflex kamen.

Der Mangel hielt noch ein paar Jahre an und der Import nach Großbritannien war mit hohen Auflagen verbunden. Mein Freund Don Morley teilte mir mit, dass er noch Mitte der 50er Jahre einen Antrag beim Handelsministerium zum Import einer Leica IIIg stellen musste. Nur Fotografen mit nachweislichen geschäftlichen Notwendigkeiten konnten hoffen, eine solche Erlaubnis zu erhalten.

Zwei Leica IIIc  in grauer Farbe aus der Zeit während des Krieges. Vorn ein K-Modell, gebaut für kaltes Wetter, insbesondere eines bei niedrigen Temperaturen zuverlässigen kugelgelagerten Verschlusses. Das „K“ steht für Kugellager. Sie wurden hauptsächlich für die Luftwaffe produziert. (Bild von William Fagan)

 

Fesselnd

Alles in allem handelt es sich um ein fesselndes Zeitdokument, das für jeden Leica Enthusiasten interessanten Lesestoff ausmacht. Es ist erfreulich zu erfahren, dass die Leitz-Werke trotz der Entbehrungen ein „gut geführtes, glückliches Unternehmen“ waren. Ich frage mich, was wohl dabei herausgekommen wäre, wenn sie stattdessen Lord Rootes geschickt hätten, um durch die Konstruktionspläne in Wetzlar zu schnüffeln?

Der gesamte Bericht wurde gescannt, wenn auch etwas in Eile und nur mit einem iPhone. Man kann es hier sehen. Die Qualität ist etwas minderwertig und es gibt ein paar Verschiebungen, aber der Text ist lesbar. Wenn ich dazu komme, werde ich einen sauberen Scan durchführen.

Ich danke Ivor Cooper von Red Dot Cameras dafür, dass er mir das Dokument aus seiner Sammlung alter Leica-Dokumente zur Verfügung stellte.

Originalartikel in englischer Sprache auf Macfilos

Übersetzung aus dem Englischen von Claus Sassenberg

Ein Kommentar

  1. Lieber Mike, lieber Claus,
    zunächst einmal ganz vielen Dank für die Arbeit, die Ihr Euch macht. Ich habe jetzt einige Male den Artikel auf mich wirken lassen, vielleicht ist es genau das, warum man entweder für Leica oder so gnadenlos dagegen ist. Und ich frage mich einmal mehr, ob es so etwas wie philosophische Fotografie gibt. Der Artikel deckt sich so ziemlich mit den unterschiedlichen Biografien der Firma und ihren damaligen Inhabern. Eigentlich müsste ein Dr. Andreas Kaufmann in Kenntnis eines solchen Artikels versuchen, Leica wieder frei zu machen von Finanzinvestoren. Ich frage mich immer wieder, was für ein Mensch der britische Chefinspektor war. Da kann man wohl nur spekulieren, aber auch ihn scheint das Leica-Produkt berührt zu haben.
    Woher die Amerikaner die Rolleiflexen hatten, kann man sicherlich nur spekulieren. Aber immerhin wurde das Rollei-Werk erst in den letzten Kriegstagen bombardiert und (nur) zu 65 % zerstört, schon ab 1929 wurde die Rollei aber sehr erfolgreich nach Amerika verkauft, weshalb die Produktion sogar vergrößert wurde. Allein bis 1940 wurden 400.000 dieser Kameras produziert. Habe die Infos aus DAS ROLLEIFLEX BUCH Stand 1967. Zudem waren die modernen Rolleiflexen schon seit ihrer Vorstellung auf der Pariser Weltausstellung 1937 eine beliebte Reporter-Kamera, auch in den USA
    Lieber Gruß
    Kai

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