Wie die Sinnfrage ausgelöst wurde:
Alle paar Jahre frage ich mich selbst: Was machst du da eigentlich? Trifft für die Messsucherfotografie das indianische Sprichwort zu: »Wenn du ein totes Pferd reitest, dann steig ab!«
Reite ich ein totes Pferd? Ist meine Webseite eine Art Anleitung für den Beritt und die Pflege toter Pferde?
Der Auslöser für diese existentialistische Krise war diesmal der zufällige Besuch einer Webseite, die sich ausschließlich mit dem Gebrauch von manuellen Objektiven (der Löwenanteil davon M-Bajonett) an der Sony A7 befasst. Dort fand sich auch ein Review der Leica M10 aus dem Jahr 2018 (mit Updates aus 2019), der dem Leser in abschnittweise drastischen Worten vor Augen führt, dass sicher nur »eine Mischung aus einem sentimentalen Träumer und eines Masochisten« das Arbeiten mit der Kamera genießt. Das ist nicht mein üblicher Sarkasmus, das sind die Worte des Autors.
Das schizophrene ist, dass der Artikel mit exzellenten Bildern gespickt ist, die der Verfasser – ganz klar ein guter Fotograf – mit der Kamera gemacht hat.
Erschüttert vom donnernden Einschlag dieses Urteils fragte ich mich, ob ich wohl schon vor nunmehr über zehn Jahren in eine frühe Demenz abgeglitten war, als ich plötzlich die Messsucherfotografie so toll fand. Sind all die Fotos aus den Jahren, von denen ich bisher glaubte, dass sie ein gewisses Niveau haben, bloße Hirngespinste, ist die Bildqualität nur »okay« (wie der Autor das Output der Kamera beurteilt)?
Oder zwang mich eine frühe Midlife-Crisis zum Erwerb eines Teils mit rotem Punkt, um mein Ego aufzupeppen? Ist es das »Luxus-Spielzeug eines eitlen Gecken, das zufällig auch mal Bilder macht«? Zugegeben: Dies Zitat ist nur sinngemäß wiedergegeben, weil der Text in Englisch ist.
WTF? Wie kommt er zu seinen fulminanten Schlussfolgerungen?
Machen wir mal für die Antwort einen anthropologischen Ansatz:
Nehmen wir an, in einem abgeschlossenen Hochtal in den Anden (Hi, Mr. Wells!) lebt eine Community von Wichteln, jeder ausgestattet mit einer schicken Sony. Sie taumeln in ihrem Biotop herum, knipsen Bilder, deuten sich gegenseitig auf die Kameras und nicken selig lächelnd im ewigen Nirwana.
Da findet einer der Wichtel eine ganz andere Kamera unter einem Busch (vermutlich hat sie der Satan dort deponiert, aber das soll jetzt nicht in religiösen Fanatismus ausarten).
Egal, jedenfalls nimmt der Wichtel das Ding und macht damit Bilder. Die anderen Wichtel erwischen ihn und stellen ihn zur Rede. »Heräsie!«, keifen die Zipfelmützenträger. Wie könne er es wagen, das Teil zu benutzen, wo doch der Schöpfer (Sony) sie bereits mit vollendeten Geräten ausgestattet habe.
Ehe die xenophobe Stimmung eskaliert und der aufgebrachte Mob den armen Wichtel lyncht, wird der hochgeachtete Älteste auf den Plan gerufen.
Er beruhigt die Menge und führt den “heiligen Review“ durch. Das heißt, er vergleicht die Findel-Kamera mit dem Maßstab aller Dinge, der wichtel-eigenen Sony.
Ja… und ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll, aber die andere Kamera kackt natürlich total ab.
Geblendet von der überirdischen Weisheit des Oberwichtels beruhigen sich die Gemüter. Mit einem unendlich toleranten Lächeln (das man ihm am liebsten aus der Visage prügeln möchte) übergibt der Großmufti die Kamera an den Finder, den die anderen Wichtel als Einfaltspinsel und Traumtänzer kennen, und erlaubt ihm großzügig, das Teil zu benutzen.
Das Gebot »du sollst keine Kamera neben mir haben« träfe nicht zu, da es sich streng genommen gar nicht um eine solche handele, sondern um ein obsoletes Fossil!
Der arme Wichtel, der sich sonst übrigens meist um die Zähne der anderen kümmert, wackelt glücklich von dannen. Er weiß es eben nicht besser, der Schwachkopf.
Zurück zu meinen existentialistischen Zweifeln. In einem wahren Blutrausch wird im Review das meiste niedergemetzelt, von dem ich bisher dachte, das seien eigentlich Vorteile des M-Systems. Irgendjemand war hier sehr verwirrt, ich wusste nur noch nicht, wer.
Und eins ist sicher: Das ist alles ein bisschen dick aufgetragen. Die Antwort für die “negative vibrations“ des Reviews ist – Peer pressure (siehe Gleichnis mit den Wichteln). Zitat: »My colleagues here are more rational than I am, so they keep asking why I even keep this camera. I cannot blame them for that.« Kurz gesagt: Wenn die anderen erwarten, dass ich die Kamera trashe, dann mache ich das auch.
Es gibt ganz klar ein paar Absätze, an die ich gern seitlich mit Rotstift »I beg to differ!« schreiben möchte.
Der “antiquierte“ Messsucher, die simple Belichtungsmessung, die wenigen Knöpfe (und – oh Graus! Keiner frei belegbar!) sind Punkte, die man völlig anders sehen kann, wenn man nicht Sony-Sozialisiert ist.
Was Kritik am grottigen Visoflex-EVF betrifft oder was der Blödsinn mit der abnehmbaren Bodenplatte soll, da kann ich nur zustimmen. Unterirdisch.
Aber dann gibt’s auch Behauptungen, die einfach falsch sind.
Ein AEL-Knopf würde fehlen. Ist wohl noch nicht aufgefallen, dass man die Belichtung speichert, wenn man den Auslöser halb durch drückt? Wie nennt man sowas? Ach richtig, AEL…
Es folgt eine Tirade, “welcher Idiot“ Leica eingegeben hat, dass die neue Firmware (2019) Auto-ISO nach unten bei 200 begrenzt, statt ISO 100 zu belassen. Wie bitte? Da hat offensichtlich einer unter einem Stein gelebt, als klar wurde, dass ISO 100 bei der M10 ein dynamisch ineffizienter Pull-Wert ist. (Und nebenbei: Denselben Stunt hat Leica bei der M10-Monochrom durchgezogen. Der Wert ISO 160 ist “Pull“, der wahre Base-ISO liegt irgendwo zwischen 320 und 640. Ich stelle immer 400 als niedrigsten Wert ein.)
Es hilft auch nicht, DxO anzuführen, aus deren Dynamik-Graph man deutlich entnehmen könne, dass ISO 100 ja viel besser sei. Jeder, der die Kamera besitzt, kann sich in 5 Minuten überzeugen, dass die Dynamik bei ISO 200 der bei 100 überlegen, die Grafik bei DxO folglich Bullshit ist. Man muss denen nicht alles glauben.
Manch einer wird sich fragen, warum ich mich so echauffiere. Es gibt schließlich negative Reviews en masse. Schon seit ich mich für die Leica M9 entschied, habe ich gelernt, mit den Schultern zu zucken und zu sagen: »Kann jeder sehen, wie er will.«
Es ist gar kein Problem, wenn ein Reviewer bestimmte Kriterien anlegt und sie nicht erfüllt sieht. Unfair ist es bloß, diejenigen mit einem anderen Blickwinkel pauschal zu diskreditieren. In den “Conclusions“ kann man lesen, dass man eine M10 nur erwirbt, um sich damit zu schmücken und herumzuprotzen, oder als halb dementer Greis schon vor 40 Jahren damit fotografiert hat und nichts anderes kennt, vor allem keine “moderne“ Kamera aus Japan.
Ja, sorry, lieber Oberwichtel, wenn man auf einem so hohen Ross sitzt, darf man sich nicht wundern, wenn einer am Sattelgurt sägt, vor allem, wenn nicht mal alle Fakten stimmen. Damit schrammt man schon hart am Dunning-Kruger Effekt vorbei!
Gleichermaßen sind die vermeintlich luftigen Höhen, in denen man sich aufgrund des Sensor-Rankings wähnt, statt der Zugspitze nur ein Maulwurfshügel, wenn man sich die minimalen Abstände (und dazu noch die zweifelhaften Bewertungsmethoden) bei DxO klarmacht. Und Bulletin: Nicht jeder wünscht sich eine Chimäre von Kamera (die berühmte eierlegende Wollmilchsau) mit allen “Bells and Whistles“, sondern sucht sein Heil ganz bewusst in der Limitation.
Anders gesagt: Malen nach Zahlen ist nicht jedermanns Sache, manche bevorzugen einen leeren Skizzenblock.
Warum Leica (die gekürzte Fassung)
Jeder, der hier öfter liest, weiß, dass ich nicht der blauäugige Leica Fan-Boy bin, der alles glaubt, was ihm Leica (Marketing) auftischt. Aber auf das M-System lasse ich nichts kommen. Es ist auch 2021 noch zeitgemäß für die, die sich der Grenzen bewusst sind.
Ich könnte an dieser Stelle ganz einfach auf meine Seite “Warum Leica-M System?“ verlinken, denn zu deren Inhalt stehe ich immer noch. Trotzdem hier noch einmal meine persönliche Liste, etwas anders strukturiert und (kürzer) formuliert.
- Kompaktes Vollformatsystem. Immer noch die beste Plattform für die M-Bajonett (und LTM-) Objektive und damit kleines Packmass. Zugriff auf locker 90 Jahre Objektiv-Evolution.
- Der Messsucher: Innerhalb seiner Limitationen (muss vernünftig kalibriert sein, effektiv nur in einem begrenzten Bereich von Brennweiten, Vorsicht bei geringer Tiefenschärfe oder Fokusshift) die schnellste Art, ein gekoppeltes Objektiv zu fokussieren.
- Simples Interface: Die Basis-Funktionen zur Bilderstellung sind physisch sofort erreichbar, selbst bei abgeschalteter Kamera erkennbar und mit wenigen Handgriffen an jede Veränderung der Lichtverhältnisse sofort anzupassen.
- Wenn man weiß, was man tut! Denn die Kamera nimmt einem nicht das Denken ab! Und das sehe ich als Pluspunkt! Natürlich ist die Belichtungsmessung im Messsuchermodus lächerlich und geradezu “antik“, aber ich komme klar damit. Wenn ich Zweifel habe, liefert mir die Kamera in Live-View ein brauchbares Histogramm.
- Ich sage nur: Design. Bei Leuten, die nicht der Hybris vermeintlich überlegener Kamerasysteme frönen oder eine Portion Sozialneid pflegen, sondern völlig unbedarft der Kamera begegnen, erzeugt sie nostalgische, “fuzzy“ Feelings, die häufig einen Dialog erzeugen bzw. die Bereitschaft, sich damit trotz DSGVO ablichten zu lassen.
Können wir uns also im Kern darauf einigen, dass es problematisch sein kann, eine riesige Gruppe von Nutzern einer Leica-M pauschal abzuwatschen? Das jeder seine persönlichen Präferenzen bei dem, was eine Kamera können muss, haben darf? Dankeschön.
Und meiner Meinung nach ist das M-System nicht am Ende der Fahnenstange. Ich habe mir mal Gedanken gemacht, wie eine künftige Leica M11 aussehen könnte, nachdem ich darüber mit Christian Bemmerl in seinem Podcast schon rumgesponnen habe.
Science Fiction: Leica M11
Eine M ist nur eine M, wenn sie einen Messsucher hat. Aber ganz im Gegensatz zu meiner Meinung in früheren Jahren… was, wenn dieser rein elektronisch wäre?
Ich höre schon den Aufschrei: »Ketzerei! Auf den Scheiterhaufen!«, aber man lese erst mal weiter.
Das Sucherbild kommt TTL (also durchs Objektiv), ein Fenster seitlich am Gehäuse liefert ein zweites Bild zur Überlagerung und Triangulation der Messbasis. Selbstverständlich muss das wieder mit der Schnecke des Objektivs gekoppelt sein.
Update: Eine andere Idee von Dirk aus den unten anstehenden Kommentaren finde ich so gut, dass ich sie hier zitieren möchte:
Die Q hat aus meiner Sicht einen super EVF (den von der SL kenne ich leider nicht). Dieses Bild müßte man doch doppelt einblenden können und beide Bilder über die Mechanik des Objektivs als Signalgeber zur Deckung bringen können. (Es ließe sich sogar schummeln, in dem der Sensor einen Phasenkontrast-Teil bekommt und diese Kanten als Signalgeber für den “doppelten” EVF genutzt werden.) Das wäre so meine Idee…
Vorteile:
- Sucherrahmen sind überflüssig, man sieht immer den gesamten Bildwinkel des Objektivs, egal wie weit oder wie lang die Brennweite ist.
- Für jedes Objektiv individuell kalibrierbar, entweder durch Firmware oder manuell im Menü, wenn man sich die Mühe macht, mit Hilfe von Fokus-Peaking das Messfeld zu korrigieren. Das könnte z.B. für die Viecher mit üblem Fokus-Shift ganz nett sein.
Die Frage ist allerdings, ob die Ressourcen bei Leica ausreichen, so eine gigantische Neuentwicklung auf elektronischer Basis finanziell auf die Beine zu stellen, da man auf nichts Vorgefertigtes von Panasonic zurückgreifen kann.
Dieser erste Punkt auf der Wunschliste ist sicher auch der unrealistischste. Man wird wohl wieder einen optischen Sucher einbauen, der muss natürlich mindestens so sein wie bei der M10. Vielleicht gibt’s ja wenigstens ein paar mehr eingespiegelte Informationen.
Dann kommen schon ein paar Sachen, die ich ernsthaft wünschen würde:
- IBIS (In Body Image Stabilisation), Bildstabilisierung. Ein Muss, selbst wenn man dafür in Kauf nehmen muss, das der Body wieder dicker wird.
- Ein “vernünftiger“ Sensor, ideal wäre einer in der Art der neuen SL2-S. Auflösung bitte nicht höher als 40 MP! Im Prinzip sind 24 MP immer noch genug!
- Waveforms (was ist das?) zusätzlich zum Histogramm (in den drei Farbkanälen)
- Keine hohe Priorität, aber ganz nett: Ein Klappdisplay für Waist-Level-Work.
- Mein spezieller Menü-Wunsch: Eine Option, den Filterfaktor einzugeben. Damit sind die in die Exif-Daten geschriebenen Blendenwerte wenigstens annähernd korrekt. Man könnte sogar für jeden Filter, den man hat, einen individuellen Faktor erstellen, indem man zwei Bilder macht: Eins mit, eins ohne Filter (die Software errechnet den Unterschied) und mit Namen des Filters im Menü speichert.
- Die Option auf einen elektronischen Verschluss?
- Schafft den Bodendeckel ab! Da unten sollte es aussehen wie bei der Q2 oder SL.
- Platz für eine zweite Speicherkarte wäre schön, ist aber nicht obligatorisch.
- Wenn der Messsucher wieder optisch ist: Ein schöner “state of the art“ aufsteckbarer elektronischer Sucher.
- Selbstverständlich sollte an der “Gestalt“, am Bedienkonzept und damit Design der neuen M11 nichts (wesentlich) geändert werden! Eine M ist eine M ist eine M (um Gertrude Stein abzuwandeln).
Soviel zu Mellonta Tauta, den Dingen der Zukunft. Es wird wohl noch fast ein Jahr dauern, bis wir erfahren, was da wirklich auf uns zukommt. Vielleicht gibt es im Sommer eine CL2 (mit Bildstabilisierung), das wäre sicher interessant.
Unterm Strich komme ich weiterhin gut mit der M10 klar, die mir jetzt schon vier Jahre treue Dienste leistet und so manchen Keeper beschert hat. Die M10-Monochrom ist eine gute Ergänzung, die S/W-DNG’s liefert, die eine Klasse für sich sind und auch Kodak Tri-X Liebhaber wie mich zufriedenstellt. Das Warten ist kein Problem.
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