Jörg Bergs Leica Thambar 90
Die schicke Verpackung des Thambars

Leser, für die Schärfe und unendliches Hineinzoomen in Bilder das Maß aller Dinge darstellen, für die das Beobachten frühlingshafter sexueller Aktivitäten heimischer Käfer im Gras bei 100 % Ansicht die höchste Erfüllung bedeutet – die lesen bitte [hier] weiter und klinken sich aus. Der nachfolgende Text behandelt ein Thema fernab normativer Leica-Tugenden – weit abgeschlagen am anderen Ende des APO-Universums.

Meine persönliche Abkehr von der Schärfe begann früh, zumindest mit regelmäßigen Unterbrechungen seit Ende der 1980er Jahre. Eine Zeit des Wandels – von Knipsereien hin zu überlegterer Fotografie (auch wenn ich mich dieser Idee zwar verbunden fühle, ihr aber immer noch weit entfernt bin). Wer die 1980er Jahre erlebt hat, wird mit Sicherheit dem Namen David Hamilton begegnet sein: sei es über seine ab Ende der 1960er Jahre in großer Auflage erschienenen Fotobände oder später durch die weichgespülten Softerotikfilmchen auf RTL. Wie auch immer – seine Bilder mochte (und mag) ich.

Viele Jahre vergingen, bis der Auslöser kam, mich selbst intensiver mit diesem Weichzeichnerstil zu beschäftigen: Im Jahr 2024, während eines Urlaubs in Frankreich, entdeckte ich einen etwa A2-großen Abzug des Altmeisters der weichen Erotik. Das Papier hatte die Anmutung eines Gemäldes und zog mich sofort in seinen Bann. Zu sehen war ein schulterfreies Porträt einer jungen Dame.

Noch im Urlaub begann ich zu recherchieren – sowohl über den Künstler als auch über die von ihm verwendete Technik. Dass Hamilton kontrovers diskutiert wird, klammere ich an dieser Stelle aus. Ich sehe seine Bilder im zeitlichen Kontext und schrieb [hier] ausführlich über dieses Thema.

Fortan beschäftigte ich mich intensiver mit dem Thema Weichzeichner und stellte bei meiner Recherche fest, dass es dazu nur einen überschaubaren Fundus gab – über fast alle bekannten Marken hinweg. Hamilton nutzte Minolta. Naheliegend also, auf dem Gebrauchtmarkt selbst eine entsprechende Ausrüstung für wenig Geld zu erwerben. Neben diversen Variosoft-Objektiven, Experimenten mit eingeschmierten Linsen und anderen Techniken stieß ich bei weiterer Recherche auf der Webseite von Leica auf ein Objektiv aus den 1930ern: das Thambar.

Das Thambar-Objektiv

Das Leica Thambar 90mm f/2.2 wurde 1935 von Max Berek entwickelt, einem der bedeutendsten Optikdesigner bei Ernst Leitz Wetzlar. Berek zeichnete sich bereits für die Konstruktion der ersten Leica-Objektive verantwortlich, darunter das Elmar 50mm f/3.5.

Das Thambar war ein ungewöhnliches Objektiv im Leitz-Portfolio: Es wurde gezielt mit sphärischer Aberration konstruiert, um einen weichen, träumerischen Bildeindruck zu erzeugen – ein bewusster Kontrast zur sonst für Leica typischen Schärfe. Der Name „Thambar“ leitet sich vom griechischen Wort θαμβός (thambos) ab, was so viel bedeutet wie „verschwommen“ oder „verblüfft“.

Insgesamt wurden zwischen 1935 und 1949, vermutlich in acht Produktionschargen, nur etwa 2.984 Exemplare des Thambar hergestellt, was es heute zu einem begehrten Sammlerstück macht. Die Seriennummern reichen von 226xxx (bereits 1934 produziert) über 283xxx, 311xxx, 375xxx, 416xxx, 472xxx, 511xxx bis 540xxx (etwa 1939/1940). Für ein vollständiges Exemplar dieser Zeit ohne Glaspilz zahlt man heute zwischen 4.000 und 6.000 Euro. Zusätzlich sollte man einen Service einplanen, bei dem das Vintage-Objektiv überholt, neu gefettet und gereinigt wird.

Am 17. Oktober 2017 brachte Leica das Thambar-M 90mm f/2.2 als Neuauflage auf den Markt. Das optische Design blieb weitgehend dem Original treu, wurde jedoch mit modernen Vergütungen, einer verbesserten Mechanik und einem zeitgemäßen 49-mm-Schraubgewinde für Filter ausgestattet. Die Legende wurde damit wiederbelebt.

Leider war ich zu spät dran: Im September 2024 besuchte ich mit meinem Sohn die Familientage in Wetzlar und fragte im Store mit Kaufabsicht nach dem neuen Thambar. Ich konnte die Frage kaum beenden, da sah ich nur verneinende Köpfe. Von den gefühlt etwa 2.000 neu aufgelegten Exemplaren (die genaue Zahl kennt nur Leica selbst) schienen 1.998 direkt an Sammler gegangen zu sein. Ein Thambar war zu diesem Zeitpunkt noch in Mumbai erhältlich – allerdings nicht gerade um die Ecke. Die gleiche Anfrage stellte ich beim Leica Store Hamburg – mit identischer Antwort. Und auch im Netz tauchten nur extrem wenige Bilder auf, die mit dem neuen Thambar aufgenommen wurden. Ein Indiz dafür, das die Neuauflage viele Vitrinen ziert. 

Etwa zwei Wochen vergingen. In der Zwischenzeit nutzte ich meine „neue“ Minolta samt Variosoft-Objektiv. Irgendwann im Oktober klingelte im Labor das Telefon, und ich wurde mit Marc Uhl verbunden, der von meiner Suche nach einem Thambar erfahren hatte. Er hatte eines in München entdeckt, ungelistet auf Lager. Überrascht willigte ich in den Kauf ein. Zwei Tage später drückte mir der UPS-Fahrer ein sehr großes Paket in die Hand.

Model: Alexa, Thambar ca. Blende 4.
Ca. Blende 9

Erfahrungen mit dem Thambar

Spätestens jetzt war klar: Das Thambar ist ein Sammlerstück. Geliefert wurde es in einer schönen Schatulle, zusammen mit einem Lederköcher und einem samtumhüllten Center Spot Filter. Das Objektiv ist in Schwarzlack gehalten, mit einer dezent in Silber ausgeführten Entfernungsskala. Der Blendenring dreht rastlos und ist mit dem Tubus zur Fokussierung verbunden – eine Bedienung, die zu Beginn irritiert, da bei den meisten Objektiven der Blendenring festsitzt. Beim Fotografieren empfiehlt es sich, zunächst die Blende einzustellen und dann zu fokussieren. Bei jeder Bewegung – sei es Fokussieren oder Verändern der Blende – spürt man die absolute feinmechanische Präzision.

Schaut man frontal ins Objektiv, fällt sofort die große Anzahl an Blendenlamellen auf. 20 Blendenlamellen sorgen dafür, dass auch beim Abblenden die Öffnung nahezu kreisrund bleibt. Das Leitz Thambar 90mm f/2.2 wurde bewusst so gestaltet, dass es ein sehr weiches, träumerisches Bokeh erzeugt. Dadurch wirken unscharfe Lichtpunkte im Hintergrund weich und gleichmäßig, ohne harte Kanten oder polygonale Strukturen.

Die sanfte Abstufung von Schärfe zu Unschärfe („Transition Zone“) wird durch die runde Blendenform zusätzlich betont. Im Gegensatz zu modernen Objektiven, die auf maximale Korrektur optischer Fehler ausgelegt sind, bewahrt das Thambar durch gezielte sphärische Aberration einen leuchtenden, fast glühenden Look – besonders bei Offenblende.

Mit Center Filter
Ca. Blende 3

Das Thambar wurde mit einem optionalen Center Spot Filter geliefert: Dieser Filter mit einer zentralen Abdunklung betont die Randunschärfe zusätzlich und verleiht Porträts eine fast surreale Wirkung. Gesteuert wird der Weichzeichnereffekt über die Blende:

Bei Offenblende ist der Effekt am stärksten sichtbar. Mit zunehmendem Abblenden nimmt die Weichzeichnung ab; ab Blende 9 ist das 90mm Thambar sogar erstaunlich scharf und kontrastreich. Ein Nachteil existiert: Das Thambar ist auf Blende 9 kalibriert und hat bei Offenblende einen leichten Frontfokus. Wer digital arbeitet, für den ist das kleine Manko kein Problem. Analog muss der Fokusring ein winziges Stück nach rechts gedreht werden, damit bei Offenblende die Schärfe etwas mehr zur Kamera verschoben wird. Den meisten Fotografen wird das nicht auffallen, weil bei Offenblende die Weichheit maximal ausgeprägt ist. Dennoch existiert ein Hauch Restschärfe im Bildzentrum, die, je nach Motiv, exakt gesetzt werden will. Eine Vignettierung ist vorhanden, die ich persönlich positiv willkommen heiße.

Unter Einsatz des Center Spot Filters ist die rote Blendenskala zu beachten. Diese reicht nur bis ca. Blende sechs, da darüber hinaus der ausgeblendete Centerbereich im Bild als großer schwarzer Punkt zu sehen ist.

Über den Winter habe ich das Thambar nicht allzu häufig eingesetzt. Der Effekt wirkt malerisch, wenn viel Licht vorhanden ist. In den vergangenen Monaten kam es bei verschiedenen Projekten zum Einsatz: zunächst an der M6, geladen mit Portra 160 und Tri-X, später an der M11 Monochrom.

Ich mag dieses Objektiv und seinen einzigartigen Look, den keine Software nachbilden kann. Das Thambar hebt sich deutlich ab – nicht nur von modernen Linsen, sondern auch von den Vintage-Objektiven der späten 1970er Jahre. Vintage-Objektive besitzen oft Charme und Charakter – doch das Thambar setzt selbst innerhalb dieser Kategorie noch einmal eigene Maßstäbe. Es bietet kein gewöhnliches „Leica“ Bokeh. Der geneigte Kenner vermag das Bokeh oft als unruhig bezeichnen wollen.  Und damit hat der Fachmann recht, denn das Thambar will seine Motive finden. Es ist nicht für alles geeignet. Für Portraits, insbesondere mit dem Center Spot Filter, spart man sich eine spätere Nachbearbeitung der Haut, denn diese wird von der Technik selbst bereits wohltuend geglättet. Landschaften können ebenfalls malerisch in Szene gesetzt werden, wenngleich ich das Objektiv etwas abblenden würde. Im August geht es, wieder nach langer Zeit, nach Mallorca ins Gebirge. Mit dabei das Thambar. Eine Reise in die Vergangenheit,  gepaart mit modernster Technik. Ich bin selbst gespannt, wie ich den mediterranen Raum malerisch in Szene setzen kann. Eine leicht körnige Anmutung auf FP4 und/oder Portra 160 – dazu Aufnahmen auf aktueller Sensortechnik; ich werde berichten.

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