Die ersten 10 000 Aufnahmen sind die schlechtesten!
Helmut Newton
(There’s an English version of this article here)
Eine Webseite ist wie ein Gemüsebeet: Sie muss gepflegt werden. Ab und zu mal Unkraut zupfen, durchhäckern… sonst erkennt man irgendwann nicht mehr, was dort eigentlich wachsen soll.
Dies ist der 100. Blog-Beitrag auf dieser (neuen) Webseite. Das ist zusammengefasst eine Menge Text, vielleicht auch mal Geschwafel. Viele, viele Fotos, und nicht alle entsprechen meinem heutigen Geschmack (bei einigen auf der “alten” Webseite gruselt es mich fast, siehe Zitat oben). Aber ich stehe dazu. Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebe ich auch nicht. Was das Unkraut-Zupfen betrifft: Die Beiträge rühre ich nicht an, sie zeigen schliesslich eine gewisse Entwicklung. Aber im Hauptmenü habe ich in letzter Zeit ein paar Änderungen vorgenommen, z.B. die neuen Seiten für die M-Leicas. Die Seite “Warum Leica” habe ich vor kurzem komplett neu formuliert, weil der Text praktisch noch aus 2009 stammte und sich vieles auf die M9 bezog. Aber manchmal muss man alte Zöpfe abschneiden, z.B. werde ich vermutlich wirklich bald die “alte” Webseite vom Netz nehmen, das meiste dort ist veraltet.
Es ist vielleicht ganz passend, dass sich dieser 100. Beitrag mit einem Besuch in Wetzlar befasst. Am Gründonnnerstag hatte ich frei, am Vortag beschloss ich, den freien Tag für einen Besuch im Leitz-Park zu nutzen. Eine eilig abgesetzte Mail, ob es noch möglich sei, an einer Führung teilzunehmen, wurde schon nach einer halben Stunde positiv beantwortet.

Vor dem Hauptgebäude des “Leitz-Park”. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux bei f/5.6 1/500sec Kodak Tri-X 400 und Orange-Filter
Nach 300km Fahrt erreichte ich den grossen neuen Kreisverkehr vor der Werkseinfahrt. In der Mitte steht ein überdimensionaler Erdglobus, auf dem Deutschland mit dem Leica-Logo gekennzeichnet ist. Dooferweise wecken so riesige Weltkugeln bei mir immer die Assoziation zu Charlie Chaplins “Der große Diktator“, wo er mit dem Ding jongliert… aber nehmen wir mal an, dass Leica nicht die Weltherrschaft anstrebt. Später erfuhr ich, dass Dr. Kaufmann den Kreisel der Stadt Wetzlar spendiert hat, und dafür das jetzige Werksgelände (günstig?) erwerben konnte. Das war mal ein Truppenübungsplatz, Herr Elbert, der später die Werksführung machte, erzählte, dass er dort noch Anfang der 90er Jahre durch den Schlamm gerobbt war.
Die Globus-Assoziation flammte nur sehr kurz auf, denn bei Einfahrt auf das Gelände ist der Eindruck sehr positiv. Es ist großzügig gestaltet, mit viel Platz (auch zum parken). Helle Steine, Grünflächen, ein Brunnen, Sitzgelegenheiten lassen es wirken wie ein römisches Forum. Das Hauptgebäude ist architektonisch bemerkenswert: Die Fassade soll an einen Filmstreifen erinnern. Die unteren, um das Gebäude laufenden riesigen Glasscheiben wiegen pro Stück 1,8 Tonnen und sind die größten gebogenen 3-Fach Verglasungen, die bisher hergestellt wurden. Der Grundriss entspricht auf der einen Seite einem Objektiv, auf der anderen einem Fernglas.
Selbstverständlich hatte ich eine Kamera dabei. Aber statt mit dem derzeitigen Flaggschiff, der M10 aufzukreuzen, bevorzugte ich es, die M6 TTL mit 35mm Summilux davor, “stilecht” geladen mit Kodak Tri-X zur Dokumentation des Besuchs zu verwenden.

Foyer. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter. Übrigens ist die Eingangshalle mal wieder so eine Belichtungssituation, wo man dem eingebauten Belichtungsmesser der Kamera (egal, ob digital oder analog!) nicht glauben darf. Die vielen hellen und reflektierenden Flächen verleiten die Kamera zur Unterbelichtung (ähnlich wie im Schnee oder am Strand). Ich habe hier eine Blendenstufe (heller) draufgelegt, um das zu vermeiden.
Wenn man eintritt, steht man sofort in der riesigen, hellen Eingangshalle, die in erster Linie an eine moderne Galerie erinnert. Und in der Tat finden sich unterschiedliche, stets wechselnde Ausstellungen von Fotografen an räumlich getrennten Stellen der Halle. Die einzige nicht wechselnde Ausstellung ist die “36 aus 100”. 36 ikonische Fotos aus hundert Jahren von berühmten Leica-Fotografen sind an einer Wand geradezu symbolisch aufgereiht. Der Lichteinfall im Galeriebereich ist durch Spezialglas im Dach so gesteuert, dass unabhängig vom Wetter keine scharfen Schatten beim Betrachten der Bilder stören.
Im hinteren Bereich finden sich “Meilensteine der Produktentwicklung” in Säulenförmigen Vitrinen. Oh ja, ich höre schon wieder die Leica-Kritiker kichern: “Vitrinen, hihi, das ist wohl artgerechte Haltung für eine Leica…”, aber wir wissen ja, was von solchen Kommentaren zu halten ist. Neulich las ich in einer Kommentarleiste von Patrick “Paddy” Ludolph, in der ein Sony-Freund ausrechnete, wieviel billiger und toller doch eine A7 mit f/1.4 Zeiss-Optik gegenüber einer M9 mit Summilux sei. Besser kann man wohl Äpfel nicht mit Birnen vergleichen.

Die “Meilensteine der Produktentwicklung”. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter
Die Nordseite des Foyers wird durch ein Glaskunstwerk von Alfons Alt aufgewertet, dass auf den dreigeteilten Scheiben angebracht ist.

Leica M1. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400
Gleich um die Ecke verwandelt sich die Galerie in eine Ausstellung, geprägt von modernster Museumspädagogik. Man kann sich interaktiv über die Firmengeschichte und Herstellungsprozesse informieren, praktisch alle je hergestellten Leica-Modelle sind ausgestellt. Grosse Glasfenster geben direkten Einblick in die Produktion, die dort tätigen Mitarbeiter nehmen die neugierigen Blicke der Besucher mit stoischer Ruhe hin. Ich fragte mich, ob sie wohl eine Zoo-Zulage bekommen. Es war nicht viel los am letzten Tag vor Ostern, ich nehme mal an, dass viele schon im Urlaub waren.

Das schwärzen der Linsenränder erfolgt von Hand. Die Fachkräfte sind in der Lage, eine Toleranz von 1/10mm einzuhalten. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter
Ein Blick in die Fertigung
Ich hatte eine Stunde Zeit, mir das alles anzuschauen, dann begann meine Führung. Der Zufall wollte es so, dass wir eine sehr kleine Gruppe von nur 5 Personen waren. Ein Umstand, der es möglich machte, dass Herr Elbert, unser Guide, uns direkt durch die Produktion führte (statt sonst aussen herum zu gehen und nur durch Glasscheiben zu gucken). Er selbst arbeitet als Prozessingenieur in der Linsenschleiferei, dort hielten wir uns besonders lang auf, war aber auch besonders interessant. Nebenbei: Das die Leica-Führungen von Mitarbeitern gemacht werden, die wirklich an der Produktion beteiligt sind, wertet meiner Meinung nach die Fülle an Informationen auf. Ausserdem spürt man den Enthusiasmus und den ehrlichen Stolz auf die Handwerkskunst, die in den Produkten steckt, das kommt authentischer rüber als jedes Marketing-Geschwafel.
Es war beeindrucken, Einblick in den Fertigungsprozess der Linsen zu nehmen. Die Maschinen, die für den Feinschliff sorgen, arbeiten mit einer Schleifemulsion, die in einem Magnetfeld gehalten wird und ständig in Bewegung bleiben muss. Eine Woche zuvor war in ganz Wetzlar der Strom ausgefallen (ein Bagger hatte die Hauptleitung gekappt). Da es länger als 10 Minuten dauerte, bis die Stromversorgung wiederhergestellt werden konnte, war die Schleifpaste in sämtlichen Maschinen hinüber und musste ausgetauscht werden. Es dauerte Stunden, bis die Produktion wieder anlief, ausserdem ein Schaden von einigen tausend Euro, allein wegen der teuren Schleifpaste. Shit happens…
Die Fertigungstoleranz der Linsen liegt bei einem Mikrometer, und das ist weltweit der niedrigste Wert für optische Gläser. In Kästen neben den Maschinen lagen die aussortierten Linsen, wir durften uns zum Andenken davon etwas mitnehmen. Vor mir auf dem Schreibtisch liegt jetzt eine fette Noctilux-Frontlinse, die fortan als Briefbeschwerer dient. Was an der eigentlich nicht o.k. ist, kann ich nicht erkennen.

In der Fertigung. Etwas verwaist wegen der kommenden Feiertage. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter
Aber wir gingen durch alle Bereiche der Produktion. Es war witzig, dass unser Guide sich an einer Stelle erst überzeugen musste, dass nicht irgendwo ein “Erlkönig” herumlag. Er hatte uns sowieso gebeten, nicht zu fotografieren, und das respektierten wir selbstverständlich. Der Grund dafür war allerdings, dass das anfänglich durchaus erlaubt war, dann aber immer Bilder von passiv wirkenden Mitarbeitern (speziell aus der Linsenschleiferei, die die Maschinen einrichten aber zwischendurch prozessbedingt nur überwachen) auf Facebook auftauchten mit dem hämischen Kommentar, dass es ja kein Wunder sei, dass Leicas so teuer seien, wenn man für’s Herumstehen bezahlt wird.
Dort, wo die Messsucherkameras zusammengebaut werden, fand ich eine Bemerkung unseres Führers amüsant. Er entschuldigte sich fast für die analogen Modelle, die seien halt in China und Japan noch besonders gefragt. Vermutlich hatte er einen Moment vergessen, dass ich mit einer M6 unterwegs war. Aber vielleicht interpretiere ich das falsch.

Blick von der Aussichts-Terrasse: Der Leitz-Park wächst. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter
Auf dem Dach der “Linse” befindet sich eine Aussichtsterrasse, von der aus man das gesamte Firmengelände überblicken kann, und da tut sich noch einiges. Der Leitz-Park wächst kontinuierlich und das symbolisiert auch Leicas Stellung auf dem Weltmarkt. Während die “Grossen” nur Verluste einfahren, scheint Leica doch irgendwas richtig zu machen. Im Sommer wird wieder ein neuer Teil des Geländes mit grossen Festivitäten eröffnet.

Das Café Leitz. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter

Im Leica-Store. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter
Nach der Führung hielt ich mich noch eine Weile auf. Das Essen im Casino hatte ich verpasst, aber ich hätte ins Café Leitz gehen können. Nur hatte ich gar keinen Hunger. Ich ging lieber noch in den Leica-Store “browsen”, enthielt mich aber jeglichen Konsumzwangs. Ich sah mal wieder eine Leica SL mitsamt 24-90er Objektiv in Natura und wusste wieder, warum ich die kleine M so mag. Das Ding ist schon ein Klotz, und mit dem Raketenwerfer davor ist jeder Versuch, unauffällig zu wirken, vergebens. Aber bevor jetzt wütende Kommentare von SL-Freunden kommen (wie schon mal, als ich Mikes Artikel nur übersetzt hatte): Wäre ich professionell tätig, wäre die SL meine erste Wahl! Schneller Autofokus, grossartige Objektive, zwei Kartenslots u.s.w. Einen Event mit einer solchen Kombination abzulichten, überlässt zumindest an der technischen Seite nichts dem Zufall.

Im Leica-Store. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter

Thumbs up! Roland Elbert, Prozessingenieur, unser Guide. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400, Orange Filter
Und hat sich der Besuch gelohnt? Unbedingt, und mein Dank gilt vor allem Herrn Elbert, der sich wirklich unheimlich viel Zeit genommen hat und noch viel mehr Insider-Informationen vermittelte, als ich hier wiedergeben kann. Das würde episch. Ich war kaum zuhause, da hatte ich schon eine Mail von ihm, denn er hatte mir versprochen, mir einen kürzlich erschienenen Artikel der Financial Times über die Objektiv-Produktion zukommen zu lassen, da er den Reporter selbst herumgeführt hatte.
Aber sogar ohne Führung ist der Leitz-Park einen Umweg wert, wenn man in der Gegend ist, denn die Ausstellung und der “Museumsbereich” stehen für sich allein.

Ausstellung. Leica M6 TTL mit 35mm Summilux, Kodak Tri-X 400
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