“I myself have always stood in awe of the camera. I recognize it for the instrument that it is, part Stradivarius, part scalpel.”
Irving Penn
1.Teil von Claus Sassenberg
(2. Teil von Volker Brockmann folgt, Beitragsbild oben ist auch von ihm)

Irving Penn’s Rolleiflex. Man beachte den “angeflickten” Hasselblad-Sucher
Jeder, der sich nur ein bisschen mit analoger Fotografie beschäftigt, wird schon mal irgendwann über die TLR’s gestolpert sein, die “Twin Lens Reflex”-Kameras (im Gegensatz zu den SLR’s, den “Single Lens Reflex”-Kameras, die für uns synonym mit Spiegelreflex-Kameras sind, seien sie analog oder digital). Ich fand das Erscheinungsbild der TLR’s mit den zwei Objektiven übereinander stets faszinierend. Um weniger wie Mr. Spock zu klingen: Man wird neugierig. Wieso braucht eine Kamera zwei Optiken? Welchen Vorteil hat das? Darüber wird sich mein Freund Volker, der Ingenieur, noch auslassen.
Die Rolleiflex als Stammvater aller TLR’s kam im Frühjahr 2018 “in meinen Fokus”, als ich die Ausstellung “Centennial” über Irving Penn im Amerika-Haus in Berlin besuchte. Zum einen gab es mir den Anstoß, mich mehr mit Mittelformat zu befassen, zum anderen richtete sich mein Augenmerk auch auf die entsprechenden Kameras dafür. Nicht lange danach fand ich eine schöne Hasselblad 501c, die ich auch heute gern benutze. Sie ist aber ein ziemlicher “Klotz” gegen so eine TLR. Andere berühmte Fotografen, die mit Rolleiflex fotografierten, sind z.B. Robert Doisneau (von dem ich auch schon eine Ausstellung im Gropius-Bau besuchte), Vivian Maier oder Robert Capa (der natürlich auch mit Leica fotografierte).

In der “Centennial”-Ausstellung über Irving Penn. Fotografieren war erlaubt und ich hatte meine Leica M6 TTL mit Kodak Tri-X geladen.

Weser-Hochwasser, Gegenlicht. Rolleiflex T mit Kodak Ektar
Im letzten Jahr “entdeckte” ich die Zeiss Super-Ikontas für mich. Auf der Suche nach gut erhaltenen Exemplaren lief mir eine Rolleiflex T über den Weg, die als defekt angeboten wurde, aber ansonsten äusserlich einen makellosen Eindruck machte. Ich erkundigte mich bei Firma Paepke in Düsseldorf, ob sie dieses Modell reparieren könnten. Das war möglich, also nahm ich die Kamera und liess sie instandsetzen. Der Bajonettring um das Objektiv hatte sich gelöst. Dabei wurde gleich der Verschluss mit überholt und im Dezember letzten Jahres hatte ich die Kamera funktionsfähig in Händen. Es ist eine Rolleiflex T Modell 3, irgendwann zwischen 1966 und 1970 gebaut. Sie hat ein Zeiss Tessar f/3.5 75mm-Objektiv und für den Sucher ein Heidosmat f/2.8 75mm. Der Verschluss ist ein Synchro-Compur mit Zeiten von 1s bis 1/500s und Stellung B, es gibt einen Selbstauslöser und einen X-Anschluss für Blitz. Der integrierte Selen-Belichtungsmesser hat allerdings nur nostalgische Bedeutung, die Selenzelle ist (wie bei allen Kameras aus der Zeit) zu altersschwach.
Exkurs: Die Äquivalenzbrennweite anderer Formate im Vergleich zu Kleinbild
Es mag nicht allen so gehen, aber wenn man wie ich “kleinbildgeprägt” ist, braucht man bei Objektiv-Brennweiten anderer Formate (egal ob größer oder kleiner) immer den Vergleich zu KB, um eine Vorstellung zu haben, wie “normal”, “weit” oder “lang” Objektive sind. Zunächst: Die Definition eines “Normalobjektivs” wird durch die Bilddiagonale des Aufnahmeformats bestimmt, die in Millimetern etwa der Brennweite des “Normalobjektivs” des jeweiligen Systems entspricht. Bei Kleinbild ist das aber ca. 43,3mm. Die 50mm also, die wir als normal bezeichnen, sind in Wirklichkeit schon recht lang.
Die Brennweiten anderer Systeme muss man mit KB ins Verhältnis setzen. Erst mal die Bilddiagonale ausrechnen (juhu, Pythagoras!): a²+b²=c² (a und b ist die Kantenlänge des Sensors/Negativs, c ist die Bilddiagonale).
, bei Kleinbild also die Wurzel aus 24²+36², die erwähnten 43,3mm. Führt man diese Rechnung für ein Bildformat von 56x56mm durch (die “wahre” Negativgröße beim 6X6-Format) erhält man 79,2mm Bilddiagonale. Man teilt die Brennweite der entsprechenden Kamera durch diesen Wert, multipliziert mit der KB-Bilddiagonale (43,3mm) und hat seine Äquivalenzbrennweite. Folgende Formel:

Dabei ist f die Brennweite des Objektivs (z.B. der Mittelformatkamera), a und b sind die Kantenlängen des Negativs der entsprechenden Kamera und “fKB-Äquivalent” natürlich das Ergebnis.
Im Fall der Rolleiflex mit 75mm Tessar ist die Äquivalenzbrennweite zu Kleinbild nach dieser Rechnung 41mm. Da sind wir schon ganz gut im (“gefühlten”) Weitwinkelbereich. Die “Normalobjektive” der meisten Mittelformat-Kameras landen tendenziell alle in der Gegend oder etwas darunter.

Weser bei Hochwasser. Rolleiflex T mit Kodak Ektar 100
Die Webseite lag im Winter aus verschiedenen Gründen im Dornröschenschlaf. Als die Tage Anfang März wieder länger wurden, brachte ich endlich die Motivation auf, einen Film einzulegen und die Kamera zu testen. Die Natur war noch recht karg, aber die Weser hatte Hochwasser und bei einer Wanderung über das Wiehengebirge gab es auch Motive. In den folgenden Wochen probierte ich die Kamera bei unterschiedlichen Lichtbedingungen und Einsatzbereichen aus. Entweder lag ein Kodak Ektar 100 oder ein Portra 400 darin. Die Corona-Krise nahm ihren Anfang und ich war froh, durch die Fototouren ein bisschen abschalten zu können. Normalerweise wären wir auch zu den Osterferien mit dem Bulli eine Woche irgendwohin gefahren, aber das fiel natürlich flach. Darüber gibt’s auch nichts zu jammern (wäre sonst auf hohem Niveau), aber so blieben meine Motive auf die unmittelbare Umgebung Vlothos begrenzt.

Am Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Hier zeigt sich, dass das 75mm Tessar einen Bildwinkel wie ein 41mm-Kleinbildobjektiv hat, also eher weitwinkelig ist. Das quadratische Seitenverhältnis (im Gegensatz zu 2:3) spielt natürlich auch eine Rolle. Rolleiflex T mit Kodak Portra 400
Die Rolleiflex im Gebrauch

Ostern auf dem Bauerhof. Rolleiflex T mit Kodak Portra 400
Die Rolleiflex ist mit eingeklapptem Schachtsucher ein handliches Quader. Nicht so kompakt wie eine Klappkamera, aber deutlich platzsparender und leichter als Mittelformatkameras von der Art der zuvor erwähnten Hasselblad. Das Film einlegen stellt einen nicht vor große Herausforderungen. Seitlich am Gehäuse sind Knöpfe, um die Spulen auszuklinken, die Leerspule kommt bei stehender Kamera nach oben. Der Film wird unter Sicht mit der Kurbel (rechts am Gehäuse) bis zur Pfeilmarkierung gebracht, dann wird das Gehäuse geschlossen und mit der Kurbel bis zur “1” im Sichtfenster transportiert. Fertig für das erste Foto.

Blick in den Schachtsucher. Leica M10 mit 90mm Macro-Elmar
Mit dem Schachtsucher kommt man nach kurzer Gewöhnung klar. Das Motiv wird spiegelverkehrt gezeigt, ich kannte so etwas schon von der Hasselblad. Ausserdem habe ich den berufsbedingten Vorteil, sowieso oft im Spiegel zu arbeiten. Mit aufgeklappter Sucherlinse kann man die Schärfe gut beurteilen. Volker optimierte den Einblick sofort mit einer selbst konstruierten Abdeckung (um seitlichen Lichteinfall zu minimieren). Er stellte gleich zwei her und liess mir das perfekt gearbeitete Werkstück zukommen. Mittlerweile hat er eine noch edlere Lösung gefunden, darüber wird er sicher gern selbst berichten.

Lerchensporn im Gegenlicht. Rolleiflex T mit Kodak Portra 400. Bei Blende 5.6 zeigt sich trotzdem ein schönes Bokeh.

…soviel zu der These: Bitte keine gestellten Fotos! Irving Penn bei der Arbeit
Irving Penn hat mit der Kamera wirklich Grosses vollbracht, aber seine Arbeitsweise war fast ausschliesslich Studiofotografie. Selbst wenn er auf Neuguinea oder in den Anden war, hat er sich eine Hütte besorgt und die Einheimischen dort reingeholt und abgelichtet. Die Kamera ist für ein ruhiges, entschleunigtes Arbeiten ideal. Dabei war sie von Anfang an auch eine beliebte Reporterkamera (weil in den dreissiger Jahren viel kleiner als die Graflex-Kameras für 5X4 oder 5X7 Zoll Großformat, die die Branche sonst herumschleppte). Für damalige Verhältnisse war sie auch nicht “lahm”, schliesslich ermöglicht die Kurbel einen rapiden Filmtransport und gleichzeitiges Spannen des Verschlusses. Das schnelle Fokussieren mit dem Schachtsucher fand ich trotzdem ziemlich gewöhnungsbedürftig, als ich einmal am Rand des Reitplatzes stand und die vorbei trabenden Pferde aufs Korn nahm. Ich fluchte leise vor mich hin und wünschte mir einen Messsucher. Verblüffenderweise (für mich) sind die Fotos was geworden, ich selbst hatte den Eindruck, dass die Pferde jedesmal schon wieder aus dem Bildfeld heraus gelaufen waren, wenn ich auslöste.

Bachbett der Linnenbeeke. Rolleiflex mit Kodak Ektar

Porträt im Lerchensporn. Das Objektiv hat eine Mindestdistanz von 1m und bei der “weiten” Brennweite ist es sowieso nicht sinnvoll, näher heranzugehen. Foto mit Leica Q
Der Auslöser wird zuverlässig durch einen kleinen Hebel gesichert, der sich schnell mit der Spitze des Zeigefingers öffnen lässt. Das Verschlussgeräusch ist sehr diskret und eignet sich für leise Umgebungen. Blende und Belichtungszeit werden über einen Hebel links von den Objektiven verstellt. Man muss den Hebel leicht herausziehen, um Blende gegen Zeit getrennt einzustellen, ansonsten sind beide gekoppelt. Das kann oben auf dem Sucherobjektiv abgelesen werden, an der Seite findet sich eine Skala mit den entsprechenden EV-Werten der Kombinationen. Das arbeiten mit EV-Werten ist schnell und praktisch, wenn die Lichtverhältnisse konstant sind und man unterschiedliche Zeiten oder Blenden ausprobieren möchte.
Der in der Kamera integrierte Belichtungsmesser ist leider “zu schwach auf der Brust” und eignet sich nur noch als modisches Accessoire. Kein Problem, ich nehme sowieso lieber meinen kleinen Sekonic-Handbelichtungsmesser. Im März/April war immer sonniges Wetter, ich habe alle Fotos aus der Hand gemacht, aber selbst lange Belichtungszeiten dürften kein Problem bei dem erschütterungsarmen Verschluss sein. Das ist auf jeden Fall der Vorteil, wenn kein Spiegel hochklappt. Bei der Hasselblad hat man immer das Gefühl, der nächste Seismograph zeigt ein mittleres Beben auf der Richterskala.

Junge Buchenblätter. Rolleiflex mit Kodak Portra 400. Wie auch weiter oben beim Lerchensporn ist dies bei Blende f/5.6 aufgenommen.
Das Tessar-Objektiv (“Tessares”, griechisch “Vier”, weil aus vier Linsen bestehend) der Rolleiflex kannte ich bereits von den Super-Ikontas als exzellente Optik. Für den Kleinbildfotografen ist das Freistellungsvermögen bei Mittelformat selbst bei Blende 5.6 oder 8.0 verblüffend. Um Streulicht zu minimieren, habe ich mir allerdings noch eine Rollei-Gegenlichtblende gegönnt.

Vor Sonnenaufgang an der Weser. Rolleiflex T mit Kodak Ektar

Rolleiflex T mit Kodak Ektar
Nach all den sonnigen Tagen nahm ich mir eines Morgens im April vor, auch mal Bilder bei Low-Light zu machen. Ich quälte mich um 5.30 Uhr aus dem Bett und begab mich an die Weser, um den Sonnenaufgang zu erwarten. Die Nacht war klar gewesen, über der Weser schwebte leichter Dunst. Ich hatte mir etwas mehr Nebel erhofft, aber man kann nicht alles haben. In der Kamera lag noch ein Kodak Ektar vom Vortag, den ich in der Morgendämmerung zu Ende belichtete. Dann wechselte ich zu Kodak Portra 400, den ich für die zu erwartenden Bedingungen für besser geeignet hielt. Vermutlich wäre Kodak Portra 800 noch besser, aber mit dem Ergebnis des 400 bin ich durchaus zufrieden.

Sonnenaufgang. Rolleiflex T mit Kodak Portra 400
Nach dem Filmwechsel hatte ich einen passenden Standort gefunden und auch schon die Bildkomposition ausprobiert. Ich wartete auf den Sonnenaufgang, um diese Jahreszeit erschien sie passgenau über der alten Eisenbahnbrücke. Nochmal flugs Belichtung gemessen. Als ich die Werte von Blende und Zeit einstellen wollte, passierte es: Die Blende blieb stecken! Liess sich nicht mehr bewegen. Und nicht bei irgendeinem mittleren Wert, nein, bei f/22! Da hat sich die Sonne bestimmt gewundert, als sie über den Horizont kam und ein wütendes Rumpelstilzchen um ein Stativ hüpfen sah! Arrrgh! Da steht man schon mal früh auf und dann sowas! Ich stopfte die Kamera in die Tasche und wollte schon frustriert von dannen ziehen, da besann ich mich. f/22 ist schliesslich auch eine Blende. Ich packte die Kamera wieder aufs Stativ und stellte die passende Zeit ein. Alle folgenden zwölf Bilder sind gelungen.

Erstes Sonnenlicht auf den alten Kopfweiden. Rolleiflex T mit Kodak Portra 400
Ich schickte die Rolleiflex noch am gleichen Morgen zu Paepke, die mir umgehend berichteten, dass das Blendenband gebrochen sei (das wiederum nichts mit dem überholten Verschluss zu tun hat). Original-Ersatzteile gäbe es nicht mehr, aber sie hätten es repliziert und könnten die Kamera folglich reparieren. Ich war erleichtert, denn das gute Stück war mir inzwischen ans Herz gewachsen und 150 Euro für die Reparatur war erträglich. Zur Zeit ist sie noch beim Boxenstopp in Düsseldorf. Update, 14.05.2020: Nach ein paar Tagen coronabedingter Warteschleife bei DHL ist das gute Stück wieder voll funktionsfähig bei mir eingetroffen! Spürbarer Unterschied beim einstellen von Blende und Zeit, beides ist viel leichter gängig als vorher und damit schneller und besser zu handhaben.
Hier noch ein paar Bilder im Slider. Die farblich “knalligen” sind mit Kodak Ektar gemacht. Alle Fotos in diesem Beitrag sind Scans von Negativen, die “Mein Film Lab” angefertigt hat, allerdings auf eine Kantenlänge von 2000 Pixeln verkleinert. Eigentlich wollte ich auch Schwarzweiss-Fotos (z. B. Architektur) mit dazu nehmen, aber da kam mir das gebrochene Blendenband dazwischen. Porträts habe ich einige von meiner Familie gemacht, aber die veröffentliche ich ungern.
Volker wird sich im kommenden 2. Teil mit mehr technischen Details beschäftigen und auch “seine” Lösung für einen störungsfreien Suchereinblick präsentieren. Man darf gespannt sein!
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