Es ist immer einfach, Kritik zu üben. Der Hang zum Nörgeln ist möglicherweise tiefer verankert, als in Entzücken auszubrechen. Wer jetzt befürchtet, dass der Tenor dieses Artikels sein könnte, dass ich die Leica M10-R “trashe”, täuscht sich. Sie ist als Vertreterin der M10-Reihe eine der am höchsten entwickelten digitalen Reinkarnationen der analogen M-Kameras. Wer sie erwirbt und innerhalb ihrer begrenzten Möglichkeiten benutzt (und die sind begrenzter als bei der originalen M10, egal was Leica Marketing babbelt), wird Ergebnisse erzielen, die nur wenige andere Produkte annähernd erreichen. Dafür sind diese “anderen Produkte” vermutlich vielseitiger, haben Autofokus, Bildstabilisierung, Video-Kapazität etc. Diese Auswahl trifft man allerdings schon, wenn man sich überhaupt für eine digitale Messsucherkamera entscheidet, egal welche.
Eines ist mir klar geworden: Ich sehe die Leica M10-R nicht als Fortschritt gegenüber der M10-P oder originalen M10 sondern lediglich als Variante für eine Zielgruppe, die die Auflösung will oder braucht (wofür?). Wer eine der vorgenannten “älteren” M10-Kameras besitzt, sollte sich einen Wechsel auf die M10-R reiflich überlegen. Die möglichen Vorteile sind marginal und es gibt Nachteile, die die M10-R für mich persönlich zu einem No-Go machen.
Bei der M10-R ist nur eines anders als bei der M10-P: Der Sensor. 40 statt 24 MP. Leica-Marketing und Leicas Blogger-, Vlogger- und Review-Acolyten entfesseln den wohlberechneten Hype um die subjektiven Vorteile der Auflösung und der angeblich überlegenen Dynamik. Beides ist bei nüchterner Analyse anfechtbar.
Das Upgrade auf den neuen Sensor ist definitiv nur ein Pseudo-Fortschritt. Ich zitiere aus Erwin Puts letztem Blog-Eintrag (der übrigens “Der Schwanengesang der Fotoindustrie” betitelt ist):
“Die Fotoindustrie ist in technischer Hinsicht schon lange nicht mehr fair (wenn sie es denn je war!). … Wer braucht wirklich 3000 Autofokus-Punkte. Oder 40 Mp? … Die neueste Leica M10-R ist eindeutig ein Produkt, das nur von Marketingleuten konzipiert wurde, um den Verkauf anzukurbeln. … Es ist unverständlich, dass wir alle immer noch darauf hereinfallen. … Die Snobs unter den Amateurfotografen werden eine andere Meinung haben. Man muss nur in eines der vielen Foren gehen, um zu erfahren, wo sich das Wissen befindet. Nicht im Hirn, schätze ich.”
Die beiden obigen Bilder trennen 10 Jahre, beide sind bei heftigem Regen in der Breitach-Klamm entstanden. Das erste Foto stammt aus der Leica M9, das zweite (vor zwei Wochen erstellt) aus der Leica M10. Ich bezweifle, dass irgendjemand “mit bloßem Auge” einen Qualitätsunterschied feststellen kann. Wie groß ist der Fortschritt bei Kamerasensoren in den letzten 10 Jahren bei “normalen” Belichtungssituationen wirklich? Sicher, heute sind die Kameras Nachtsichtgeräte. Übrigens sind beide Bilder mit langen Belichtungszeiten “aus der Hand” entstanden. Das wird bei der M10-R nicht gehen. Dazu später mehr.
Der überwiegende Teil meiner Leser wird mir zustimmen, dass die Auflösung, selbst die technische Qualität insgesamt bei dem, was ein “gutes Foto” ausmacht, nur unter “ferner liefen” aufgeführt ist. Natürlich kommt es auf das Genre an. Was bei Landschafts- oder Architektur-Fotografie durchaus eine Rolle spielt, ist bei Reportage total unwichtig. Wann hätte je jemand bei Betrachtung von Robert Capas Bildern Wert darauf gelegt, die Nähte der Uniformjacke des abgebildeten Soldaten genau zu erkennen, weil das so wahnsinnig viel zur Bildaussage beiträgt? Oder seine Bilder vom D-Day in der Normandie: Das Grauen wird eben genau in der Unschärfe transportiert.
Bei Porträt gar will überhaupt keiner eine Mega-Auflösung, es sei denn, es geht um erkennungsdienstliche oder dermatologische Belange.
Bei meiner initialen Bewertung der M10-R im letzten Blog-Beitrag hatte ich noch gesagt, ich könnte mir vorstellen, upzugraden, wenn mir die (derzeit fiktive) M11 nicht zusagen würde. Nach einiger Reflexion nehme ich das zurück. Ich würde lediglich von meiner “gewöhnlichen” M10 auf eine M10-P gehen. Weil nämlich die M10 in ihrer ursprünglichen Konzeption mit einem 24 MP-Sensor ausgewogen ist, ein 40 MP-Sensor ist dagegen “overkill”!
Warum? Selbst für ältere Leica-Objektive sind die 40 MP doch ein Klacks. Haben nicht konkurrierende Produkte anderer Hersteller teils noch viel größere Auflösung? Jahaaa … aber die haben auch Bildstabilisierung! Selbst die Q2 verträgt ihre 47 MP deswegen durchaus. Aber 40 MP der M10-R aus der Hand mit langen Belichtungszeiten – die verschmierten Pixel vergällen dem Auflösungs-Fanatiker die Freude am hereinzoomen ins Bild! Darüber spricht natürlich keiner bei Leica-Marketing. In einem kürzlich erschienenen Interview mit Jesko von Oeynhausen kommt in einem kleinen Nebensatz der Hinweis, dass man sich dieses Problems durchaus bewußt ist (ca. bei Zeitindex Minute 12). Er sagt in einem abschliessenden Plädoyer für die M10-R: “Wenn du etwas an deiner täglichen Fotografie verändern willst, vielleicht eine Unmenge an feinsten Details festhalten möchtest, nimm dir Zeit und mach das perfekte Foto, benutze vielleicht ein Stativ.” (!!)

Die Breitach-Klamm bei Regen. Leica M10 mit 21mm Super Elmar bei f/4.0 1/15s ISO 200. Ich hatte etwas abgeblendet, um eine längere Belichtungszeit zu erreichen, damit das Wasser mehr “fließt”. Selbst 1/8s ist mit M10 und dem 21mm Objektiv aus der Hand noch machbar. Bei einer Leica M10-R ist so etwas nur mit Stativ möglich. Viel Spass beim schleppen.

100%-Ausschnitt aus dem obigen Bild. Man kann jetzt streiten, ob es die höchstmögliche Schärfe hat. Sicher nicht. Aber für ein handgehaltenes Foto gibt’s nichts zu meckern.
Wenn die kommende Leica M11 den zu erwartenden Sensor mit 40 MP oder mehr hat, steht zu erwarten, dass sie dafür konzipiert ist, will sagen, womöglich mit einer Bildstabilisierung ausgerüstet ist. Sonst ist das wirklich wenig sinnvoll. Übrigens empfinde ich für Menschen wie Jesko von Oeynhausen oder Stefan Daniel große Sympathie und ich bin froh, das sie mit der Produktlinie der M-Kameras betraut sind. Ich habe die Hoffnung, dass sie die “Werte des Systems” im Kern im Auge behalten, auch bei der M11.
Was die hohe Crop-Fähigkeit betrifft, will ich dieses Leica-Markteting Argument nicht für wertlos erklären. Sicher für mich und viele andere ziemlich unwichtig, weil wir es gewohnt sind, das Bild vor Ort zu komponieren, wie es das jeweilige (zuvor deswegen gewählte) Objektiv vorgibt. Es wird vielleicht am Rand ein wenig weggeschnitten oder gerade gerückt. Aber natürlich könnte man auch die ganze Nordkurve fotografieren, wenn man ein Porträt vom Torhüter machen will… die meisten von uns (einschliesslich Jono Slack) können so nicht denken. Aber machbar ist es. Für mich ist jemand, der so arbeitet, ziemlich talentlos.
Ein weiterer Faktor ist natürlich die Performance des neuen Sensors im Vergleich zum älteren. Interessant ist, dass Jono Slack in seinem Review behauptet, eine bessere Dynamik zu sehen. Das ist allerdings eine sogenannte “Expertenmeinung”. Auch bekannt als die niedrigste Stufe einer evidenzbasierten Bewertung… rein subjektiv.
Nun bin ich der letzte, der etwas gegen subjektive Bewertung vorbringen würde. Schliesslich schimpfe ich oft genug über die leichtgläubigen Materialisten, die sich an DxO-Daten hängen. Im zuvor erwähnten Interview sagt Jesko von Oeynhausen bei dem Thema Sensor-Qualität (ca. Zeitindex Minute 6:30), dass der neue Sensor durch den technischen Fortschritt wenigstens ein ebenso gutes Signal/Rauschen Verhältnis aufweist (wie der alte). Ich bezweifle das durchaus nicht. Seltsam, dass er hinzufügt, das durch ein neues Board-Design auch weniger Banding und insgesamt ein “homogeneres” Bild erreicht würde.
Banding? Was für Banding? Bei der M10 konnte man sich endgültig davon verabschieden. Und was, bitteschön, ist ein “homogenes Bild”?
In dem Interview zur Leica M10-R zeigt Jesko von Oeynhausen ein Beispiel-Bild, um die dynamischen Fähigkeiten des neuen Sensors zu demonstrieren (ca. Zeit-Index Minute 7:20). Das Bild oben entspricht einer identischen Belichtungssituation und ist aus der M10. Der postulierte Dynamik-Gewinn beim neuen Sensor dürfte im Vergleich marginal sein.
Eines ist nicht zu bezweifeln: Nämlich dass die kommende DxO-Bewertung des M10-R-Sensors diesen deutlich höher als den M10-Sensor platzieren wird. Aber nicht, weil der soviel besser ist. Ich habe schon am Beispiel der Leica Q und Q2 gezeigt, dass die Bewertungskriterien bei DxO so angelegt sind, dass höher auflösende Sensoren bei sonst gleichen Eigenschaften die niedriger auflösenden im Ranking übertreffen.
Vor einiger Zeit habe ich ein eher emotional angelegtes “Opinion-Piece” geschrieben, das sich recht kritisch gegenüber Leica äußerte. Vielleicht zur Überraschung einiger, die diese Webseite unter dem Eindruck besuchen, mich selig lächelnd im ewigen Leica-Nirwana vorzufinden. Ich wurde gar ein “Hardcore-Traditionalist” genannt (nein, das ist kein schlimmer Vorwurf). Ich würde mich aber eher als Hardcore-Großhirnbesitzer bezeichnen.
Ist die M10-R eine gute Kamera? Ganz zweifellos, wenn man sich der Konsequenz auf die Auswahl der Belichtungszeit durch die hohe Auflösung bewusst ist, kein Problem. Dabei spielen für mich andere Nachteile kaum eine Rolle (größere Bilddateien, langsamere Bildverarbeitung in der Kamera, geringere Akku-Laufzeit). Wer für sich die Crop-Fähigkeit und den Detailreichtum der Fotos als wichtig erachtet, kann im Überfluss schwelgen.
Ich bleibe bei der M10 und warte mal, was die M11 so bringt. Bisher habe ich jedes Folgemodell der digitalen M’s sofort genommen. Bei der M11 bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht wird es dann eine M10-P (oder vielleicht eine M10-M?).
Auf einen Blick:
Vorteile der Leica M10-R:
- Hohe Auflösung, daher Detailreichtum der Bilder verbunden mit hoher Crop-Fähigkeit
- leichter Dynamik-Gewinn der DNG-Dateien
Nachteile der M10-R:
- handgehaltene Belichtungszeiten verkürzen sich
- Rauschverhalten des Sensors ungünstiger
- mehr Speicherplatz für die großen Bilddateien
- langsamere Verarbeitung in der Kamera wegen der Datenmenge
- kürzere Akkulaufzeit
- fast 700 Euro teurer als eine M10-P, über 1000 Euro teurer als eine M10
Update, 31.07.2020: Ich habe mittlerweile viele ähnliche Stimmen im Netz gefunden, die der M0-R bescheinigen, ein reines Marketing-Produkt ohne viel Sinn zu sein. Dazu muss man sich natürlich aus dem Dunstkreis der Fotografen entfernen, die ihr logisches Denken an Leica verkauft haben. Es ist fast schon Mitleid erregend, wie sich die Leica-ahängigen Reviewer in Begründungsnot winden, warum man diese Kamera kaufen sollte. Jono Slack weist fairerweise darauf hin, dass er Leica verpflichtet ist. Bei anderen wird das nicht klar. Ich bin mir zum Beispiel über den Status von Patrick Ludolph in der Hinsicht nicht sicher. Sein M10-R Review endet zwar mit der Empfehlung an die M10 und M10-P Nutzer, nicht upzugraden, aber zwischendurch habe ich das Gefühl, dass er nach Argumenten “Pro-M10-R” sucht und nicht so richtig fündig wird. In seinem Video vergleicht er Fotos mit der klassischen M10. Am Ende ist nur die Dynamik in den Lichtern bei der M10-R marginal besser (und die Frage ist dabei, ob das nicht eher auf Software-basierten Kniffen zurückzuführen ist), das Rauschverhalten sogar schlechter (und wen überrascht das?). Ich persönlich fand auch das Farb-Rendering der M10 besser, aber dazu gab es keine Wertung. Seltsam, dass die Problematik kürzerer Belichtungszeiten (aus der Hand) wegen der Auflösung mit keinem Wort angesprochen wurde. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass dieses Detail einem erfahrenen Fotografen entgeht.
Aber wie schon Erwin Puts konstatiert: Wenn man nicht das sagt, was die Industrie hören will, bekommt man keine Kameras mehr zum Review. Zitat aus einem Blog-Eintrag von Erwin Puts:
Ich habe seit Jahren keine Leica-Produkte von der Fabrik oder dem Importeur erhalten, weil ich ein Produkt oder die Marketingtexte noch immer unabhängig kritisch betrachten möchte. Ich will mich nicht an dieser Wohlfühlstrategie beteiligen und das Ergebnis ist da. Nicht, dass ich darüber traurig wäre! Die Verbindung zu Panasonic ist jetzt so stark, dass Leica für dieses Unternehmen eine gehobene Strategie zu sein scheint. Es ist nicht mehr interessant, über Leica-Produkte zu schreiben, da die Produkte denen der Konkurrenz immer ähnlicher werden und die Philosophie des Unternehmens mehr auf die Erzielung von Gewinnen ausgerichtet ist als auf die Herstellung von Produkten, die für den Fotografen interessant sind, wie zu Zeiten von Wetzlar und sogar Solms.
Besonders emotional ist ein Statement von Steve Huff, denn ich noch aus meinen M9 Tagen als glühenden Leica-Fan kenne. Er hat sich bei mir mit seiner Geister-Seherei in Miskredit gebracht (ein unglaublicher Haufen Idiotie), aber sein Statement zur M10-R unterschreibe ich. Wenn man den Artikel in einen Satz fassen will: Die M10-R ist für ihn ein Verrat an der Philosophie der M-Kameras.
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