Ab und zu muss ein Provinzbewohner wie ich mal Großstadtluft schnuppern, und wenn das nahe Bielefeld (dessen reale Existenz immer noch nicht gesichert ist) nicht mehr ausreicht, kann man von uns aus Berlin in gut drei Stunden mit dem Zug erreichen. Es war das letzte Berlinale-Wochenende, Sir Simon spielte Ligeti in der Philharmonie, das Wetter war bescheiden und mir war das alles ziemlich egal, ich wollte nur die M10 mal ausführen. Das letzte Mal war ich im Mai 2015 dort, als ich unserem Austauschschüler Jesse (aus New Mexico) die Stadt zeigte. Damals hatte ich meine M3 dabei, mit Kodak Ektar geladen, und klapperte mit ihm die für einen Amerikaner wichtigen Sights ab.

Im Mai 2015 am Checkpoint Charlie, Leica M3 mit 35mm Summilux, Kodak Ektar
Wenn Leser aus Berlin hier hereinschauen, mögen sie mir verzeihen, wenn ich immer irgendwie in Berlin-Mitte rumhänge, aber wenn man nur selten in der Stadt ist, neigt man dazu, erst mal im Rgierungsviertel, Museumsinsel, Nikolaiviertel, usw. zu landen. Dabei gibt’s natürlich in Berlin jede Menge andere spannende Orte. Wie ich feststellte, als mich meine Frau (die Berlin eigentlich besser kennt als ich) am Sonntag mit nach Prenzlauer Berg nahm.

Selfie-Kultur am Tor, Leica M10 mit 50mm Summilux bei f/1.4 1/750sec ISO 100
Und ein gemeinsames Wochenende mit meiner Frau war das Ziel. Fotografieren war echt Nebensache, Hand aufs Herz und nicht geflunkert! Trotzdem fiel noch genug dabei ab, au contraire, die M10 bewies besonders unter “Zeitmangel” bei der Einstellung ihren Wert. Kennen wir das nicht alle, dass die Familie genervt daneben steht, wenn man noch mal “schnell” ein paar Fotos machen will? Zum Beispiel beim nächtlichen Gang an der Spree entlang kurz mal übers Geländer “point and shoot”, als wäre heller Sonnenschein. Allerdings mit 5000, 10 000 oder gar 12500 ISO, ganz egal, die Bilder sind mehr als brauchbar. Wenn ich da an jeder Location ein Stativ ausgeklappt hätte, wäre das ein einsamer Abend geworden. So besuchten wir ein wunderbares Orgelkonzert im Dom.

Vor dem Konzert, Leica M10 mit 21mm Super-Elmar bei f/3.4 1/30sec ISO 4000
Aber halt, dass ist überhaupt nicht chronologisch! Das erste, was ich in Berlin machte, war ein Besuch in der Fasanenstrasse. Unser Hotel war am Ku’damm, also dort einchecken und schnell mal um die Ecke ins Geschäft mit dem roten Punkt. Ich wollte gern einmal bei der M10 durch den elektronischen Sucher schauen. Es war einer da und flugs in den Blitzschuh gesteckt. Ich war erwartungsgemäss “underwhelmed”. Schon ganz gut gegen die Krücke auf der M240, aber nichts gegen die Q (oder gar die SL). Ausserdem hatte mich die Warze schon auf der M240 immer genervt, dass ich das Teil praktisch kaum benutzt habe. Wenn ich unbedingt pixelgenau komponieren will, uncool oder nicht, nehme ich das hintere Display der Kamera. Kein Gefummel mit umstecken des EVF und Zerstörung des Kameradesigns. Auf einen Porsche 911 baut man ja auch keinen Dachgepäckträger (Oder? Bin kein Porschefahrer, sorry, trotz Klischee).

Pixelgenaues Komponieren mit Live-View ist jetzt weniger nervig als früher, weil alles viel schneller geht. Die Kuppel vom Plenarsaal des Bundestages aus. Leica M10 mit 50mm Summilux bei f/2.8 1/350sec ISO 100
Ausserdem war gerade das erste Firmware-Update! Einer der Hauptpunkte war die nochmalige deutliche Verkürzung der Blackout-Zeit bei Live-View, dass senkt noch mal die Hemmschwelle, diese Einstellungsoption gegenüber dem an sich bevorzugten Messsucher zu wählen. Am Samstag Nachmittag hatten wir eine Führung im Reichstag, gerade wenn man Architektur fotografiert, ist Live-View hilfreich. Auch natürlich mit dem EVF, ich bin nur zu faul, mit dem Ding zu hantieren.

Die schwangere Auster oder “Jimmy’s Smile”. Leica M10 mit 21mm Super-Elmar f/3.4 1/45sec ISO 800
Einiges in dem Firmware-Update betraf ja auch den Sucher, durchaus sinnvolle Sachen, anderes die Menüstruktur oder den Info-Bildschirm. Dazu Beseitigung verschiedener kleiner Fehler. Alles o.k. Natürlich war der erste Kommentar in einem nicht näher genannten Forum unter der Ankündigung dieses Updates, dass Leica ja offensichtlich “mal wieder” ein “halbfertiges” Produkt auf den Markt geschmissen hat. I beg to differ.
Erstens konnte ich tatsächlich schon vor dem Update alles, was ich wollte, mit der Kamera fotografieren. Zweitens ist es normal und erwünscht, dass ein so komplexes elektronisches Gerät noch weiterentwickelt wird. Wollte man bis zur perfekten Ausreifung der Software warten, käme jede Kamera vermutlich zwei Jahre später auf den Markt. Ausserdem bedarf es auch des “User-Feedbacks”, weil man sonst gar nicht weiss, was optimiert werden muss. Ich bin gar nicht böse, dass ich die Kamera früh bekam und nehme ein paar Imperfektionen gern hin, aber wenn man mit so etwas nicht leben kann, wäre es vielleicht besser, die Kamera in drei Jahren zu kaufen. Wer weiss noch, wie es bei der originalen Fuji X100 war? Das Teil hatte mehr Bugs als ein indischer Strassenköter, im Lauf der Zeit wurde daraus eine der besten Kameras der letzten Jahre, ein wahrer Klassiker. Nur durch die Updates.

Noch ein Absacker in der Kneipe, dann ins Hotel. Leica M10 mit 35mm Summilux bei f/1.4 1/90sec ISO 320
Oh, aber meckern kann ich auch. Wann gedenken die Herren bei Leica denn wohl, die DNG’s von den überflüssigen Anweisungen zu befreien, die in Lightroom dafür sorgen, dass Häkchen bei “Profilkorrekturen aktivieren” und “Chromatische Aberration entfernen” schon gemacht sind und Luminanzrauschen je nach ISO schon appliziert wird (was nichts mit den Importeinstellungen von LR zu tun hat!)? Es nervt mich, dass ich bei jedem Bild die Häkchen entfernen und Luminanzrauschen nullen muss. Selbst bei ISO 100 wird der Wert 5 eingestellt. Da haben wir noch genügend Stoff für das hoffentlich baldige nächste Update. Vielleicht springt irgendwann nebenbei noch die Möglichkeit zum elektronischen Verschluss dabei heraus, das steht auf meiner Wunschliste auch ziemlich oben. Alle Fotos in diesem Blog sind übrigens ohne Profilkorrekturen oder Rauschunterdrückung.

Im Plenarsaal. Die “fette Henne” und die Kuppel von unten. Leica M10 mit 21mm Super-Elmar bei f/3.4 1/60sec ISO 800
Zurück zum Berlin-Besuch. Wir hatten eine Führung im Reichstag vereinbart, darauf hatte ich mich besonders gefreut, weil ich schon sehr lange gern die Kuppel fotografieren wollte. Wie alle solche Sehenswürdigkeiten ist die natürlich schon millionenfach abgelichtet, kaum Aussicht, was neues hinzuzufügen, aber ich war eben neugierig, wie ich mit der M10 dort klarkomme, ausserdem wollte ich meinen eigenen Satz Bilder haben…
Am Eingang sind strenge Sicherheitskontrollen, ich gab vorsichtshalber mein Schweizer Mini-Taschenmesser aus der Fototasche ab, um keinen Großeinsatz der Bundespolizei zu provozieren. Ich halte eine Leica als Waffe übrigens für potentiell viel gefährlicher (ein Schwinger damit, und ein Schädel-Hirn-Trauma ist gebucht), zum Glück traute mir keiner zu, die Kamera derartig Zweck zu entfremden. Trotzdem müssen die am Eingang bei irgendjemanden was übersehen haben, als ich mich im Aufzug zur Kuppel mit ca. 25 anderen Besuchern zum Gruppenkuscheln wiederfand, hatte bestimmt einer nicht Deo, sondern chemischen Kampfstoff aufgelegt. Jedenfalls roch es so.

Im Aufzug zur Kuppel, Leica M10 mit 35mm Summilux bei f/1.4 1/60sec ISO 640
Aber es ging nicht nur um die Kuppel, wir besuchten auch den Plenarsaal des Bundestages und hörten einen Vortrag über das parlamentarische System (mal ein Update für mich). Nach gut zweieinhalb Stunden verliessen wir den Reichstag und bummelten durchs Regierungsviertel. Es wurde langsam dunkel, in Erwartung des Orgelkonzerts suchten wir eine nette Kneipe an der Spree auf, um etwas zu essen. Irgendwann zwischendurch konnte ich nicht vermeiden, auch mal am Brandenburger Tor vorbeizuschauen und die Selfie-Kultur zu studieren.

Leica M10 mit 28mm Elmarit bei f/2.8 1/60sec ISO 5000
Als wir auf dem Rückweg zum Hotel kurz am Potsdamer Platz Station machten, weil ich dort das “Augenkrebs-Bunte” Sony-Center fotografieren wollte, lästerte meine Frau, dass ich das ja wohl schon tausend Mal fotografiert hätte. Woraufhin ich würdevoll frei nach Karl Valentin antwortete: Es ist zwar schon alles fotografiert, aber noch nicht mit jeder Kamera!
“Augenkrebs” am Sony Center. Wer’s wirklich bunt mag, ist dort immer richtig.
Woraufhin mir einfiel, dass ich mit der Leica Q auch noch nie in Berlin war, aber die hatte ich bewusst Zuhause gelassen. Sicher ist, dass ich mit der Q alleine fotografisch in Berlin auch nichts vermisst hätte. M10 hin oder her, ich gebe offen zu, dass ich immer noch der Q verfallen bin. Sollte dann noch irgendwann eine Q mit längerer Brennweite kommen, könnte das bedeuten, dass ich die M nur für sehr spezielle Zwecke nutzen würde. Auf sie ganz verzichten würde ich nicht. Die Q und die M berühren jeweils ganz andere Zielgruppen, ich bin zufällig in beiden.

Auf dem Weg zum Konzert schnell über das Geländer fotografiert: Was früher nur mit Stativ brauchbare Ergebnisse lieferte, geht mit modernen Kameras im Vorbeigehen. Leica M10 mit 35mm Summilux bei f/2.0 1/30sec ISO 6400
Aber jetzt in Berlin hatte die M10 sich bereits bewährt, wie ich es auch von der M9 oder M240 kannte, mit dem kleinen Bonus der (noch) besseren Bedienbarkeit, kurzer Reaktionszeiten dank des schnellen Prozessors und ausreichend Pufferspeicher, der Dynamik und des Rauschverhaltens des Sensors. Ich hatte übrigens am Ende des Tages noch 25% Akku-Kapazität, obwohl ich den ganzen Tag wegen der vielen Architektur-Motive fast nur mit Live-View fotografiert hatte. Und, natürlich völlig irrational: Ich bin jedesmal fasziniert, die M10 zu greifen, die sich wie meine M6 unter Steroiden anfühlt. In der kurzen Zeit, die ich sie nun besitze, ist sie schon ebenso vertraut wie ihre Vorgänger, das Arbeiten mit ihr eine Freude.

Leica M10 mit 35mm Summilux bei f/1.4 1/30sec ISO 640
Irgendwo im Netz las ich, ihr fehle die “Seele” (seltsamerweise sollte die M262 eine haben). Mal davon abgesehen, dass man schon beim Menschen nicht sagen kann, wo sich der mythische Sitz dieses Dings befindet, ist der metaphysische Wert einer solchen Aussage mehr als zweifelhaft. Jeder technische Gegenstand ist per se ein seelenloses Ding. Aber, jetzt kommt meine Lesart: Der Fotograf haucht die Seele ein, durch seine Arbeit, seine Kreativität. Was die Leica M10 betrifft: Sie hat das, was ich bei jeder Leica-Messsucherkamera, analog oder digital, wahrnehme. Diese Aura perfekter Handwerks- und Ingenieurskunst, eines fein gearbeiteten Werkstücks mit einer langen Ahnenreihe gleichartiger Kameras. Und so gesehen spiegelt sie den Geist oder die Seele aller wider, die dazu beigetragen haben, sie zu erschaffen. Und für mich tut das die M10 genauso wie die M3.

Leica M10 mit 50mm Summilux bei f/4.0 1/125sec ISO 1600
Am nächsten Morgen besuchten wir eine Ausstellung über den Fotografen Robert Doisneau im Martin-Gropius Bau. Für mich immer wieder ein Grund zur Ehrfurcht, was ein guter Fotograf mit Licht und Schatten zu tun vermag. Die Ausstellung war etwas “trocken” kuratiert, etwa 100 Bilder hingen einfach in den verschiedenen Räumen nebeneinander, alle in etwa gleicher Größe (ca. Din A 5), wenn auch mal in Quer- oder Hochformat, bzw. Quadratisch. Doisneau benutzte hauptsächlich eine Rolleiflex, die 6X6 cm Negative, also Mittelformat, produziert. Wenn einige Bilder durch größere Abzüge hervorgehoben worden wären, hätte das die Sache erheblich aufgelockert. Trotzdem verliess ich das Haus tief beeindruckt.

Die Kehrseite: Die Zelte der Obdachlosen an der Spree. Ich hätte auch jede Menge Bettler fotografieren können, aber ich komme mir immer heuchlerisch vor, mit einer 6500 Euro-Kamera Gesellschaftskritik zu üben. Leica M10 mit 35mm Summilux bei f/2.8 1/90sec ISO 640
Es war noch Zeit, bis unser Zug uns in die Provinz Westfalen zurückbringen würde, und meine Frau hatte die gute Idee, mal nach Prenzlauer Berg zu fahren. Dort kannte sie die “Kulturbrauerei“. Das Wetter war inzwischen deutlich besser geworden, und auf dem Gelände fanden wir einen Street-Food-Market in vollem Gang. Das kam natürlich gerade recht, wir setzten uns mit einem Glas Cidre in die Sonne und hörten einem (wirklich guten) Strassenmusikanten zu. Ich nahm mir vor, Berlin mal wieder zu einer wärmeren Jahreszeit zu besuchen, möglichst auch dieses Jahr.
Wir wollten gerade gehen, da landeten wir mitten im Trubel um die Vorpremiere des neuesten “Bibi und Tina”-Films (wer Töchter hat, weiss, wovon ich rede, wer nicht – ich weiss nicht genau, ob der was verpasst hat…), denn um die Ecke ist das Kino in der Kulturbrauerei. Trauben von Menschen drängten sich vor dem Haupteingang, das ZDF interviewte die Fans. Ich beobachtete fasziniert das Spektakel und dachte noch ein wenig melancholisch, dass hier in Berlin immer was los ist und wir in der Provinz versauern. In Berlin müsste ich mir jede Woche eine neue Festplatte kaufen, um Bilder abzuspeichern. Das gesagt, könnte ich mir kaum vorstellen, meine kleine Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, einfach zu verlassen. Alles hat seine Vor- und Nachteile.
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