In der vorletzten Woche war ich mal wieder mit meinem Freund Jürgen auf unserer alljährlichen Moutainbike-Tour. Die hatten wir auch schon mal recht frei definiert, nämlich als wir in Kopenhagen oder Schottland waren, aber diesmal zog es uns wieder in die Dolomiten, nachdem wir uns letztes Jahr im Großwalsertal ausgetobt hatten. Früher waren wir schon von Wolkenstein aus über die Seiser Alm, durchs Duron-Tal und um’s Sella Massiv geradelt, jetzt errichteten wir unser “Basislager” eine Bergkette weiter, in der Nähe von St. Kassian.
Und “Basislager” ist das richtige Wort, denn erstens sind wir beide Camper (und das hatte sich schon letztes Jahr bewährt), zweitens befand sich der Campingplatz auf fast 1700m Höhe. Was Campen betrifft, ist Jürgen ein Asket. Ihm genügt ein kleines Zelt und einfachstes Equipment, ich bin leider durch den Gebrauch diverser Bulli-Generationen extrem verweichlicht. Andererseits hatte auch Jürgen nichts dagegen, morgens im standgeheizten Bulli zu frühstücken, wenn das Thermometer 2°C zeigte. Askese bedeutet schliesslich nicht Selbstaufgabe.
Jürgen hat inzwischen seinen eigene Bericht in dem für Ihn typischen Reportage-Stil mit exzellenten Bildern verfasst, sehr lesenswert mit einigen kritischen Fragestellungen weit über das Thema Fotografie hinaus. Der erste Teil findet sich hier. Und der Beitrag über unsere Wanderungen hier.
Die Leica M10 mit 28mm Elmarit und 90mm Macro-Elmar war mein Standard-Begleiter auf unseren Touren. Eigentlich hatte ich gar nichts “Analoges” vor (ich wollte in erster Linie radeln), aber zum Wandern rang ich mich durch, etwas auszuprobieren. Nämlich…
Die Zeiss Ikon Nettar
Wie ich in den Besitz dieser Kamera kam, erklärt eine etwas melancholische Vorgeschichte. Ich bin nun seit 27 Jahren Zahnarzt in meiner Heimatstadt. Ein Patient, der schon viele, viele Jahre bei mir ist, nun ein sehr alter Mann, schenkte mir vor ein paar Wochen die Ikon Nettar samt Bereitschaftstasche, Blitzgerät und -Birnen (solche hatte ich seit den 70er Jahren nicht mehr in der Hand). Er hatte sie selbst etwa 1953 gekauft, aber sicher vierzig Jahre oder länger nicht benutzt. “Melancholisch”, weil er mir sagte, sein Sohn würde wohl alles, was er hinterlasse, nur in eine große Mulde werfen und ich wüsste eine solche Kamera wenigstens zu schätzen. Ihm hätte sie immer gute Dienste geleistet.

Größenvergleich: Die Ikon Nettar mit einer Leica M2. Eine sehr kompakte Mittelformat-Kamera!
Ich war schon ein wenig gerührt, als er die komplette Ausrüstung aus einer alten Einkaufstasche zog und auf einer Stellfläche im Behandlungszimmer aufreihte. Sogar die Bedienungsanleitung Zeiss Ikon Nettar war dabei. Ich kannte zwar die Baureihe “Ikonta” von Zeiss, hatte aber “Ikon Nettar” noch nicht gehört. Vor allem verblüffte mich die geringe Größe, denn dass es sich um eine 6X6 Mittelformat-Kamera handelte, war sofort klar, als ich des Gehäuse öffnete. Hier und da war der Lack abgesprungen, aber ernsthafte Schäden waren bei oberflächlicher Inspektion nicht festzustellen. Es versteht sich von selbst, dass ich dieses Geschenk auch nicht zurückgewiesen hätte, wenn der Faltenbalg voller Löcher gewesen wäre. Ich betrachtete alles mit der nötigen Referenz und er freute sich darüber. So kam ich zu der Kamera, wusste aber noch nicht, ob ich nur ein Ausstellungsstück geerbt hatte oder etwas Gebrauchsfähiges.
Modellgeschichte
Zuhause machte ich mich erst mal schlau. Die erste Zeiss Ikon Nettar kam schon 1934 als preiswerte Alternative zur Ikonta heraus und war ausdrücklich für den Amateur gedacht. Die Nettar hatte im Gegensatz zur Ikonta einfachere Objektiv/Verschluss-Kombinationen, keinen Belichtungs- oder Entfernungsmesser und dergleichen. Trotzdem hatten sie einige Bauteile und auch die hohe Fertigungsqualität gemeinsam. Nettars waren immer Faltkameras, manche horizontal, manche vertikal, Negativgrössen variierten zwischen 6X9, 6X6 oder 6X4,5.

Die Ikon Nettar mit Blitzgrät
Meine “geschenkte” Nettar hat eine lange Reihe von Vorläufern, die man in Camera-Wiki einsehen kann. Es handelt sich um das Modell 517/16, das von 1951-57 hergestellt wurde (es scheint, dass Ikon nach 1957 keine Nettars mehr fertigte). Sie faltet sich vertikal, lädt 120er Rollenfilm und belichtet 6X6-Negative. Das Objektiv ist ein Novar-Anastigmat von Rodenstock, ein vergüteter Dreilinser mit 75mm Brennweite (das übersetzt sich zu etwa 47mm ins Kleinbildformat). Nicht sehr “schnell” mit größter Blende f/6.3 (kleinste f/22), aber dafür scharf. Nicht superscharf, wie bei der Texas-Leica oder der Hasselblad, aber für die kleine Linse akzeptabel. Sie hat einen Vario-(Lamellen)-Verschluss, der sich Stufenlos von einer B-Stellung bis zu einer 1/200s stellen lässt und einen Anschluss für den Blitz hat. Das Blitzgrät werde ich wohl nicht mehr zum Leben erwecken, es sind Batterien darin (Fossilien von Varta), die ich noch nie gesehen habe.

“Cameraporn”: Die Zeiss Ikon Nettar mit aufgeklapptem Rückdeckel. Das 6X6-Format der Negative ist sofort erkennbar
Sie hat einen “Fernrohrsucher” direkt über dem Objektiv unter dem Blitzschuh (im Gegensatz zu dem früheren “Klappsuchern”). Keine Doppelbelichtungssperre (und das soll gut sein, denn die Mechanismen dieser Dinger machen nur Ärger), an den Filmtransport muss man selbst denken, ein kleines Fenster auf der Rückseite zeigt, wo man gerade ist. Die Typenbezeichnung findet sich auf der linken Seite der rückwärtigen Klappe.
Die Nettar im Rucksack
Die hier gezeigten Bilder sind nur die “niedrigauflösenden” Basis-Scans vom Fotoservice! Ich hatte noch keine Zeit, sie selbst einzuscannen, wenn ich dazu komme, tausche ich sie aus.
Ich hatte die Kamera eigentlich nur “auf Verdacht” mit und ohne feste Absicht, sie auszuprobieren. Dennoch steckte ich sie zur M10 in den Rucksack, als Jürgen und ich am dritten Tag wandern gingen, um unseren Beinen mal eine andere Belastung zu gönnen. Der einzige Rollenfilm, den ich noch hatte, war ein Kodak Portra 400 (der für sich absolut spitze ist), aber für die Kamera bei Sonne tendenziell zu empfindlich, zwang er mich doch, bei einer 1/200s meist bei Blende f/22 zu bleiben. Normalerweise belichte ich Portra eher grosszügig (wegen der besseren Scanbarkeit), aber die Kombination f/22 mit 1/200s entspricht genau der “Sunny-Sixteen-Regel”, die ich anwandte. Bei “normal” sonnigem Wetter halte ich mich bei Film nie mit einem Belichtungsmesser auf.

Zunächst “überrollte” ich beim einlegen des Filmes schon mal Bild Nr. 1. Dass kommt davon, wenn es schnell gehen soll. Blieben noch 11 Bilder. Das komponieren mit quadratischem Format kannte ich schon von der Hasselblad, es stellt interessante Anforderungen. Wenn ich ein Motiv gefunden hatte, checkte ich die Einstellungen lieber zweimal, spannte den Verschluss, holte tief Luft und löste aus. Der Spannhebel des Verschlusses, den ich im Sucher zurückschnellen sah, schaffte es irgendwie nicht, mich zu überzeugen, dass er wirklich mit einer 1/200s ablief. Es sah viel langsamer aus. Darum war ich die ganze Zeit skeptisch, ob ich wohl nur überbelichteten Schrott produzierte. Davon abgesehen hätte ich mir auch eine Streulichtblende gewünscht.

Eine Studie wert sind auf jeden Fall die Gesichter derer, die die Kamera registrieren, wenn ich sie ausklappe. Von Mitleid bis Faszination ist alles zu sehen. Ich würde das sogar als “Spassfaktor” beim Gebrauch historischer Kameras dazuzählen.

Das Ergebnis
Ich sandte den Film ohne große Erwartungshaltung zum Fotoservice. Als ich drei Tage später die Scans übermittelt bekam, fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Alle Bilder top! Gute Schärfe, im Randbereich abfallend, mit leichter vignettierung in der oberen linken Ecke. Dies würde ich allerdings der kleinen Blende zuschreiben, die ich verwenden musste. Normalerweise wäre ein Portra 160 (oder vielleicht ein Ektar 100) die ideale Wahl bei gutem Wetter, man kann dann bei Blende f/8 oder f/11 bleiben. Damit wir uns richtig verstehen: Eine Hasselblad- oder Fuji-GW690 Optik spielt selbstverständlich in einer anderen Liga, aber für das kleine Ding ist die Qualität beachtenswert.

Ansonsten hat man mit der Nettar eine Mittelformat-Kamera im Mini-Format! Denn das ist meine größte Hemmschwelle: Ich habe nie Lust, die Hasselblad oder die Fuji GW 690 weit mitzuschleppen, sosehr ich auch deren Qualität schätze (die, wie schon oben erwähnt, noch deutlich über der Nettar liegt). Die Nettar limitiert sich natürlich auch durch langsame Blende und eingeschränkte Belichtungszeit, aber als “Schönwetterkamera” ist sie super! Vor allem klein. Jetzt überlege ich hart, ob ich nach einer gut erhaltenen Ikonta Ausschau halten soll, die ebenso kompakt ist, aber mehr kreative Möglichkeiten bietet. Ausserdem sind die Objektive deutlich besser.

Übrigens muss irgendeine Knalltüte beim Fotoservice die Filmrolle geöffnet haben, als noch Lichteinfall war. Das letzte Negativ zeigt es leider ganz deutlich, und Spuren sind beim Vor- und Vorvorletzten am Rand zu sehen. Das ist kein Lichtleck der Kamera, denn dann würden das logischerweise alle Bilder zeigen.

Die Leica M10 – immer dabei
Als ich Frühjahr und Sommer ohne Leica Q war, hatte ich mich daran gewöhnt, die M10 mit 28mm Elmarit und dem 90er Macro-Elmar beim radeln mit dabei zu haben. Eigentlich hätte die Q (wie in den Vorjahren) gereicht, denn meist war 28mm für Landschaft voll ausreichend. Aber tatsächlich gab es ein paar Gelegenheiten, wo ich das 90mm-Objektiv gebrauchen konnte.
Im Slider noch einige Eindrücke aus der Leica M10
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