Im Januar ist die Leica M10 drei Jahre auf dem Markt. Um es gleich zu sagen: Für mich die beste digitale Messsucherkamera ever! Das heisst jetzt nicht, dass die lieben Modelle aus dem digitalen Paläolithikum nichts taugen.

Die Leica M8, noch recht primordial aussehend
Betrachten wir einmal die Evolution: Als die M8 (Cameraleitziana Solmsensis antecessor) aus dem Urschlamm kroch, hatte sie Probleme mit dem infraroten Spektrum des Sonnenlichts, denn wer hätte gedacht, dass ausserhalb der Brühe soviel davon sein würde? Dafür hatte der Schöpfer (nennen wir diese Entität in Ermangelung eines besseren Namens mal “Leica”) in ihrem Fall auf den Moiré-Filter verzichtet, mit dem die anderen armen Viecher geschlagen waren, die schon an Land herum taumelten (z.B. Gigantopithecus Canonensis, Paranthropus Nikonensis). Die sahen nur Schlieren, während die M8 trotz kleinerem Sensor einen evolutionären Vorteil hatte und bis heute fein aufgelöste Bilder produziert. Nicht zuletzt wegen eines weiteren Glücksgriffs der Natur: Die kleine M8 ging eine Symbiose mit den schon länger existierenden Leica-Linsen ein (die auf der Ursuppe schwammen). Zusätzlich waren die armen Kreaturen mit Moiré-Filter auch noch durch ihre klappernden Spiegel und ihre enorme Größe behindert, weshalb sie ja auch jetzt aussterben. Obwohl dieser Prozess bereits länger dauert als vorausgesagt. Die M8 hingegen war klein und wendig und entwickelte sich weiter. Leider war die Kiste völlig Nachtblind.

Die Leica M9, schon besser an die Umgebung angepasst
Wie so oft in der Evolution entwickelten sich die Organe der M8 weiter, sie wurden größer bei etwa gleichem Gehäuse, von da ab sprechen wir von der M9 (Cameraleitziana Solmsensis habilis). Die Nachtblindheit wurde besser, die Infrarot-Empfindlichkeit war nur noch eine Spur da und die Bilder erlangten eine Auflösung, die mit den besten Predatoren der Zeit mithalten konnte. Einen Nachteil hatte sie noch beim Anschleichen an die Beute: Nach jeder Belichtung erfolgte ein Aufzuggeräusch, dass an einen Roboter mit Verdauungsproblemen erinnert oder etwa so klingt, als würde man einen schrillenden Wecker im Klo versenken. Ansonsten erreichte gerade dieses Modell Kultstatus.

Die Leica M240. Paläontologen streiten bis heute über die korrekte Nomenklatur, manche bestehen auf “M”, einige Erbsenzähler auf “M (Typ 240)”. Der größte Teil der Welt hat sich auf “M240” verständigt.
Aber Evolution heisst auch: Survival of the fittest. Die M9 musste sich an die veränderten, multimedialen Umweltbedingungen anpassen und entwickelte Video-Tauglichkeit, wenn auch nur auf niedriger Stufe. Die M240 (Cameraleitziana Solmsensis erectus video) war aus der M9 durch Mutation entstanden! Darum hatte sich auch ein völlig anderer Sensor entwickelt, durch den Video und Live View erst möglich wurden. Nachblindheit war so gut wie passé, wenn auch ab ISO 3200 schicke Streifen im Dunkeln auftauchten, wahrscheinlich, um die Eintönigkeit dieser Bildregionen zu durchbrechen. Leider wurden die neuen Funktionen mit einem größeren Gehäuse erkauft. Damit all das am Laufen gehalten werden konnte, versah sich die M240 mit einem hypertrophischen Akku, der vermutlich ursprünglich als Starterbatterie für einen Leopard II Kampfpanzer gedacht war. Trotz gewisser Unzulänglichkeiten überlebte die M240 recht gut im immer wilder werdenden Dschungel der Fotoindustrie.

Die Leica M10, auf der Höhe der Evolution
Es kam, wie es kommen musste: Der Schöpfer (Leica) trennte plötzlich große Landmassen ab, auf denen sich eigene, videofähige Wesen entwickelten. Durch diese evolutionäre Isolation war die Videoeigenschaft plötzlich kein Selektions-Vorteil mehr und konnte komplett abgeworfen werden. Durch diesen glücklichen Umstand entstand die wohl am höchsten entwickelte Form der Messsucher-Kamera, die dank des Verzichts auf redundante Organe wieder erschlankte wie nie zuvor und dadurch dem klassischen Schönheitsideal der analogen Antike faktisch entspricht. Die M10 (Cameraleitziana Wetzlariensis Sapiens) erblickte das Licht der Welt und ist seither die Krone der (Messsucher-) Schöpfung!

Nach diesem zwangsläufig sehr stark zusammengefassten Abriss der Evolution stelle ich fest, dass ich die Leica M10 auch nach drei Jahren durch kein anderes Modell von Leica oder gar der Konkurrenz ersetzen möchte. Heute würde ich wegen des schlichteren Designs die Kamera zwar in ihrer Reinkarnation als M10-P nehmen, habe mich aber nie nur deswegen zum “upgraden” durchringen können. Denn einen Touchscreen brauche ich ungefähr so dringend wie GPS für meine Querflöte oder Bluetooth für die Toilettenspülung. Selbst das potentiell leisere Auslösegeräusch war kein Grund, die “normale” M10 ist schon o.k. in der Hinsicht.
Dies wird keine explizite Darstellung, einen veritablen Langzeit-Review habe ich bereits nach einem Jahr geliefert und die Tugenden der Kamera im Detail gepriesen. Nach der Zeit konnte man schon einiges abschliessend beurteilen. Ganz im Gegensatz zur häufig geübten Praxis, mit einer Kamera ein paar Tage rumzuknipsen und dann das Maul aufzureissen, um das grossspurig “Review” zu nennen.
“In a nutshell”: Was mir nach wie vor super an der M10 gefällt… das irrationalste zuerst.
- Die Dimension, die wieder der der analogen Modelle (annähernd) entspricht. Wenn ich die M10 im Wechsel mit der M6 benutze, kann ich die beiden vom Gefühl (vom feineren Abtasten abgesehen) nur durch den Filmtransporthebel unterscheiden.
- Der – zumindest annähernd- invariante Sensor, mit dem die Geissel der Digitalfotografie (auch “Highlights” genannt) bestens beherrscht werden kann. Ausserdem ist auch bei dem mittlerweile einsetzenden Megapixel-Wahn die Auflösung mit 24MP meiner Meinung nach weiterhin der “Sweet Spot”. Ich würde nicht viel mehr haben wollen.
- Der ISO-Drehknopf auf der Oberseite. Mit dessen Erscheinen kann man auch bei ausgeschalteter Kamera stets die Belichtungsparameter sofort erkennen. Und ein paar weniger Knöpfe auf der Rückseite bei gleichen Eingriffsmöglichkeiten ist auch exzellentes Design.
Nebenbei: Am Anfang (über ein Jahr lang) hielt es niemand bei Leica für nötig, darüber aufzuklären, dass der niedrigste ISO-Wert (100) der M10 ein “Pull-Wert” ist, das bedeutet einen Dynamik-Verlust bei Gebrauch dieser ISO-Empfindlichkeit. Der “wahre” native ISO-Wert der Kamera liegt bei 200 (oder nahebei) und sollte bei normalen Tageslicht-Verhältnissen standardmässig benutzt werden. Eigentlich zum Verrückt werden, dass Kamera-Hersteller in der Hinsicht eine Informationspolitik wie der Kreml betreiben und man nur durch Reverse Engineering herausfindet, was für die praktische Fotografie durchaus von Bedeutung ist!
Seit der M9 (die damals wirklich die einzige Vollformat-Kamera mit einem vergleichsweise kleinen Gehäuse war) gibt es viele andere spiegellose Vollformat-Bodys, die auch klein sind. Aber bis heute ist auch für die M10 ein Alleinstellungsmerkmal geblieben: Die manuellen “Prime-Lenses” sind in Proportion ebenso klein wie die Kamera, das macht sie für mich auf Reisen, bei Wanderungen u.s.w. zum platzsparenden Begleiter, in Städten ist sie unauffällig und wenig bedrohlich für die DSGVO-geplagte Umwelt.
Die M-Kameras (welche auch immer) sind nach wie vor die besten Plattformen für die unglaubliche Menge an Messsucher-Objektiven, die es aus allen Zeitaltern gibt. Selbst die SL (nichts gegen die SL!), die Leica extra für die Aufnahme auch von M-Objektiven konzipiert hat, kann zwar von der Bildqualität ganz klar mithalten, nicht aber im praktischen Gebrauch. Denn das Objektiv ist nicht an einen Messsucher gekoppelt und muss mit Fokus-Peaking fokussiert werden. Spätestens bei Low-Light-Verhältnissen komme ich mit einem gekoppelten Messsucher wesentlich schneller zurecht.
Die Autofokus-Objektive mit annähernd gleich guten Abbildungsqualitäten wie die manuellen M-Linsen leiden wegen des ganzen notwendigen Gedöns von Stellmotoren und Elektronik unter Elephantiasis. Was habe ich von einem zwergenhaften Sony-Body, den ich vor lauter Knöpfen kaum vernünftig halten kann, wenn ich ein gigantisches Zeiss-Otus-Teil davor montiert habe? Da lob ich mir ‘ne M10 mit 50mm Summilux.

Hard Rock. Leica M10 mit 35mm Summilux
Nach drei Jahren hat sie sich als nicht besonders anfällig erwiesen. Seit ich sie im ersten Jahr im hohen Bogen aufs Strassenpflaster gepfeffert habe, hat sie den Customer Care nicht mehr besuchen müssen. Der Messsucher ist trotz wenig zarter Behandlung noch voll justiert, Staub auf dem Sensor konnte ich immer mit Luftbläser selbst entfernen, sonst fiel nichts an.

Turnier. Leica M10 mit 50mm Summilux
In den letzten drei Jahren habe ich zirka 8000 Fotos aus der M10 behalten (viele andere sind im DNG-“Archiv”). Das sind Landschaftsaufnahmen, Städtereisen, Konzerte, Theateraufführungen und andere Events, (Familien-)Feiern wie Hochzeiten oder Konfirmationen, überhaupt viele private Fotos aus dem Alltag der Familie, Porträts und alles mögliche mehr, was sich nicht in ein eindeutiges Genre einordnen lässt.
Objektivmässig ist im Zweifelsfall immer das 35er Summilux oder Summicron davor (gerne auch stattdessen das 28mm Elmarit!), dann das 50er Summilux. Für die Weite gibt es nichts Besseres als das 21er Super-Elmar, als Tele habe ich fast immer das schnuckelig kleine 90mm Macro-Elmar dabei, aber auch das 90er Summarit hat seine Daseinsberechtigung. Da ich gerade bei 90er bin: Niemals käme ich auf die schwachsinnige Idee, mir die Pest in Form des neuen 90mm Summilux ins Haus zu holen!

“Don Quichote“. Leica M10 mit 90mm Summarit. Warum sollte ich ein 90er Summilux kaufen, wenn das hier mit einem Summarit für einen Bruchteil des Preises geht?
Ich würdige zwar die Ingenieursleistung, ein solches Teil zu realisieren, auch die Fertigungsqualität ist bei Leica nie ein Thema. Aber davon abgesehen, dass dieses Monster die Proportionen der Kamera völlig sprengt und man sich einen Bruch hebt, ist der praktische Wert mehr als eingeschränkt. Wie das 50er und 75er Noctilux ist das ein “One-trick-Pony”, das heißt, man kann es nur sinnvoll weit offen benutzen, denn abgeblendet ist es jeder anderen 90er Linse unterlegen. Bei der Brennweite weit offen ist das fokussieren mit Messsucher ein Glücksspiel. Man ist also auf die “Warze”, den Visoflex angewiesen. Vermutlich ist es deswegen auf der SL besser zu handhaben.
Nebenbei: Bokeh – ein auch von mir gerne benutztes Stilmittel – ist kein natürlicher Seheindruck. Das menschliche Auge ist nicht in der Lage mit Bokeh “zu sehen”, ausser, man bekommt mit einem Noctilux kräftig was übergebraten. Dann sieht man allerdings nur noch Bokeh, garniert mit hübschen Sternen.

Tour de France. Leica M10 mit 50mm Summilux. Wer mit einem Messsucher umgehen kann, kommt auch mit bewegten Motiven zurecht.
Und Leica-Marketing Gebabbel: Bei einer Kamera wie der Leica M10 brauche ich die Öffnung auch nicht für Low-Light, da tut es das 90er Summicron, selbst das Summarit. Das Objektiv wird für Porträt und Landschafts-Fotografie beworben. Ja klar, da darf sich wirklich nichts bewegen! Bei wenigen Millimetern Schärfentiefe muss man den Porträtierten eigentlich ins künstliche Koma versetzten. Und das beschworene Mega-Bokeh bekomme ich schon mit einem einfachen Summarit. Sorry, das Ding ist ein überteuerter Briefbeschwerer.

Dies ist ein Bild mit dem Leica Apo-Macro-Elmarit R-100mm. Ein Bokeh-Monster, das sich mit Sicherheit immer noch besser fokussieren lässt wie das 90er Summilux (da man sowieso auf Fokus-Peaking angewiesen ist).
Nachdem ich das rausgehauen habe, bleibt mir nur zu hoffen, dass die Evolution mit der zukünftigen M11 (bisher gab es immer ca. 4-Jahres-Modellzyklen) weitergeht und nicht in Dekadenz verfällt. Ich möchte auf keinen Fall mehr als 36MP Auflösung (lieber wieder 24MP!), auch sollte der Sensor gerne wieder invariant sein. Ein elektronischer Verschluss müsst eigentlich realisierbar sein. Bei den manuellen Objektiven könnte man eine Bildstabilisierung nur im Body selbst erzielen (IBIS), aber ich würde es hassen, wenn das Gehäuse deswegen wieder größer werden müsste und dann lieber verzichten. Ein zweiter Karten-Slot wäre nett. Hände weg vom optisch-mechanischen Messsucher, ich will keinen als EVF!
Bisher habe ich den Modellwechsel bei Leica-M’s mitgemacht, aber wenn wirklich Dekadenz einsetzen sollte, kann ich mir gut vorstellen, einfach bei der M10 zu bleiben. Bei der Q2 habe ich das ja schon durchgezogen und bin zur Q-P zurückgekehrt. Und wer heute noch glaubt, durch den Erwerb eines moderneren Modells welcher Marke auch immer seine persönliche Fotografie verbessern zu können, der ist voll auf die Gehirnwäsche der Marketing-Leute reingefallen.

Vlotho in der (diesigen) Sylvesternacht 2018/19. Leica M10 mit 50mm Summilux
Hier eine kleine, kunterbunt zusammengewürfelte Auswahl (!!) zum größten Teil unveröffentlichter Beispiel-Bilder aus den letzten zwei Jahren (viele Bilder aus dem ersten Jahr sind bereits in dem entsprechenden Beitrag dazu zu sehen). Ich denke, man kann die große Bandbreite von Möglichkeiten erkennen, die einem das “limitierte” System einer Messsucher-Kamera dennoch gibt.
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