Es ist eine Neuerscheinung, die es kaum in die Bestsellerlisten bringen dürfte und dennoch eine wichtige Rolle für einige Menschen spielen wird: Das neue Leica Pocket Book, nunmehr in der 9. englischsprachigen Auflage, bündelt einen enormen Wissensschatz. Als Nachschlagewerk ist es, zumal nach dem Tod von Erwin Puts, unverzichtbar. 

A labour of love“, sagen die Briten anerkennend, wenn jemand eine komplizierte Aufgabe mit echter Hingabe und aus einer gewissen Selbstlosigkeit heraus gemeistert hat. Es ist eine schöne Umschreibung und passt so wunderbar auf das Leica Pocket Book, 9. Auflage, das nun seit wenigen Wochen vorliegt. Ich glaube, ich kann nach vier Jahren M-Files ein bisschen ermessen, wie viel labour und wie viel love in so einem Projekt liegt, und trotzdem soll es hier nun eine objektive Besprechung werden.

Ist das jetzt das Leica Pocket Book oder ein Gesangbuch?

Also fangen wir bei den Äußerlichkeiten an. Das Leica Pocket Book kommt recht gediegen daher. Leica-rotes Hardcover, solide Fadenheftung, zwei Lesebändchen und ein längliches Format, das dieses Werk fast wie ein Gesangbuch wirken lässt. Muss ich mal probieren, ob es der Nachbar in der Kirchenbank merkt… Auch als handliche Bibel könnte das Buch durchgehen. In Oskar 1,1 stünde dann wohl so etwas wie: „Am Anfang war der Film, und der Film war bei Barnack, und der Barnack baute darum ein Gerät und das Gerät wurde die Leica.“

Produktfoto zeigt Leica Pocket Book
Ein Standardwerk, was will man mehr?

Aber nein, hier soll mit niemandes religiösen Gefühlen gespielt werden, auch wenn so mancher Leica-Fürsprecher gelegentlich missionarische Züge anzunehmen scheint (und viele Leica-Hasser auch wirken, als seien sie von geradezu zelotischem Eifer erfüllt). Das Leica Pocket Book ist einfach eine faszinierende Sammlung von Wissen, die unverständlicherweise die meisten Menschen kalt lässt, einige wenige dagegen in Entzücken versetzt.

Eine Londoner Team machte die Neuauflage des Leica Pocket Book möglich

Herausgegeben hat das Buch der Londoner Leica-Händler Ivor Cooper (Red Dot Cameras), als treibende Kraft in der Redaktion fungiert Dr. Frank Dabba Smith aus London, ein anerkannter Leica-Experte, auf den wir später noch einmal kommen. Eingebunden war auch der anerkannte Technik-Experte David Slater. Einen Teil der Inhalte konnte Smith aus den früheren Auflagen fortschreiben, so dass er selbst für sich nicht die Autorschaft für das ganze Buch beansprucht*. Die Schlussredaktion besorgte mein Freund Mike Evans, der unseren Schwester-Blog Macfilos betreibt. Es ist also eine gewaltige Portion Sachverstand versammelt in der Produktion dieses Buches.

Er hat sehr viel Herzblut in dieses Buch gesteckt: Frank Dabba Smith ist der Autor des neuen Leica Pocket Book (Bild: Mike Evans).

Fast alle Kameras und Objektive, die Leica je machte, sind beschrieben

Das Ergebnis enttäuscht dann auch nicht. In dem 0,7-Kilogramm-Klopper auf (leider stark spiegelndem) Kunstdruckpapier sind fast alle Leica-Produkte aus über 100 Jahren beschreiben, von der Ur-Leica bis zur M11 und der M6-Wiedergeburt, dazu alle R-Kameras, die frühen analogen SL-Modelle und ihre modernen digitalen Namensvetter, die Produkte aus dem untergegangenen APS-C-System und das Mittelformat-System S.

Sogar MTF-Diagramme fehlen im Leica Pocket Book nicht

Die vielleicht wertvollste Ressource im Leica Pocket Book ist die Auflistung fast aller Leica-Objektive, die jemals hergestellt wurden. Jedes einzelne ist abgebildet, kurz beschrieben und mit einer knappen, aber zutreffenden (soweit ich es beurteilen kann) Wertung versehen. Dazu kommen MTF-Diagramme und wesentliche technische Daten. Ein Linsenschnitt wäre noch schön gewesen, Angaben zum Baumaß auch (das Gewicht immerhin wurde berücksichtigt). Trotzdem wüsste ich nicht, wo man kompetenter und kompakter informiert würde, wenn man zum Beispiel etwas über die verschiedenen 35er Summicron-Varianten für M-Mount wissen wollte.

Produktfoto zeigt Leica Pocket Book, Innenteil: Inhaltsverzeichnis
Schon mal ein Statement: Das Inhaltsverzeichnis allein ist bereits beeindruckend.

Bis hin zum neuen APO-Summicron-M 35 ist alles drin

Bemerkenswert ist, dass im Leica Pocket Book auch die jüngsten Objektive noch aufgenommen wurden – zwischen Redaktionsschluss und Auslieferung muss ein bemerkenswert kurzer Zeitraum gelegen haben. Dennoch liegt es in der Natur der Sache, dass auch dieses Standardwerk irgendwann wieder unvollständig sein wird. Ob sich dann wieder jemand für so einen Akt von labour of love findet?

Für den Moment sind wir aber erst mal prächtig bedient mit dem neuen Leica Pocket Book. Es markiert den gesammelten Wissensstand des Jahres 2023. Natürlich kann es nicht die Tiefe bieten, wie sie Erwin Puts in seinen Werken erreicht hat. Es ist auch stilistisch nicht so, sagen wir mal: originell, wie Puts‘ teils gewaltige Bücher. Im Pocket Book ist alles auf Präzision und Knappheit getrimmt, sonst hätte dieses „Taschenbuch“ wohl 700 statt nur 427 Seiten gehabt.

Produktfoto zeigt Leica Pocket Book, Innenteil: Beispielseite M-Objektiv
Knappe Beschreibung, die wichtigsten technischen Daten, ein Bild und MTF-Diagramme – das gibt es im Leica Pocket Book über so ziemlich jedes Objektiv, das Leica gebaut hat. Den Raum für Notizen füllt der geneigte Sammler dann mit den Seriennummern seiner Vitrinenstücke.

Für Geschwätzigkeit ist im Kleingedruckten kein Platz

Was mir überdies gefällt, sind einige knappe, aber sehr wohl überlegte Hinweise zum Kauf von Sammlerstücken am Anfang sowie zu jedem Objektiv ein paar einleitende Worte, die einen wohltuenden Kontrast zur üblichen Review-Prosa herstellen. Ich merke ja selbst oft, wie schnell man in solche Ausdrücke wie „das Objektiv hat Charakter“ oder „es zeichnet retromäßig“ oder „das Bokeh mag dem einen oder anderen etwas unruhig vorkommen“ verfällt. Bisweilen lässt sich das meiner Erfahrung nach nicht vermeiden, aber Frank Dabba Smith und seine Mitstreiter haben diese Klippen beneidenswert souverän umschifft.

Produktfoto zeigt Leica Pocket Book, Innenteil: Beispielseite M-Kameras
Auch Sondereditionen und Kleinserien sind im Leica Pocket Book berücksichtigt. Besonders viele dieser Varianten gab es von der Leica M (Typ 240)

Hilfreich sind auch die, zum Teil sogar jahresgenauen, Produktions- oder Verkaufszahlen zumindest für alle älteren Kameras und Objektive (zuletzt war Leica in diesem Bereich nicht mehr so transparent) sowie die Auflistung von Seriennummern und Produktionsjahren. Die Autoren schreiben selbst, dass es hier einige Unschärfen gibt, aber im großen und ganzen sind das natürlich – für Sammler und darüber hinaus – wertvolle Informationen.

Produktfoto zeigt Leica Pocket Book mit Leica CL analog
Eine von 65.000, gebaut zwischen 1973 und 1976 mit einem Objektiv, das ausweislich der Seriennummer im Jahr 1973 gebaut wurde: Über diese Leica CL mit ihrem Summicron 40 verrät das Leica Pocket Book doch so einiges.

Das Leica Pocket Book ist für Anwender und Sammler gleichermaßen wertvoll

In Summe haben Leica-Sammler und -Anwender (im Vorwort steht der erfrischende Aufruf, Leicas doch dazu zu benutzen, wofür sie gemacht wurden – fotografieren nämlich) im Leica Pocket Book in seiner 9. Auflage ein tolles Buch an die Hand bekommen – ob sie nun Jünger sein mögen oder nicht. Frank Dabba Smith kann man vom Verdacht der religiösen Rotpunkt-Verblendung gewiss freisprechen – als Rabbiner ist er mit den wirklich großen Dingen im Leben betraut. 

Gleichwohl ist Frank Dabba Smith auch in Leica-Dingen ein Meister seines Fachs, wie zuletzt in einer sehr sehenswerten Doku auf Arte zu sehen war. Dieser Film zeigt, wie Ernst Leitz II. viele Juden vor einem grausamen Schicksal bewahrte, indem er ihnen einen Neustart im sicheren Ausland ermöglichte. Aber das ist hier nur ein Einschub, der gleichwohl gut zeigt, mit wem* wir es hier zu tun haben.

Produktfoto zeigt Leica Pocket Book mit Leica M3
Zeitlos gut: Das Leica Pocket Book in seiner 9. Auflage und die vielleicht berühmteste dort behandelte Kamera.

Das Leica Pocket Book in wenigen Worten: A labour of love

Das neue Leica Pocket Book ist jedenfalls erkennbar mit viel Hingabe und einer über Jahrzehnte erworbenen Kompetenz entstanden. Dafür können wir allen Beteiligten nur danken, zumal die jüngste deutsche Auflage (7., von 2003) lange vergriffen ist. Mir wird es ein unverzichtbares Nachschlagewerk werden, gerade in der zeitlos guten, gedruckten Form. Und auch im Lichte meiner eigenen Bemühungen kann ich vor dem Ergebnis nur den Hut ziehen: It’s a labour of love.


Leica Pocket Book, 9. Auflage, 427 Seiten, viele Fotos und Diagramme, 11,5 x 19,5 Zentimeter. Red Dot Photo Books, London. Hinweis: Das erste Produktionslos war im Juni 2023 schnell vergriffen, man muss möglicherweise also ein bisschen auf das Buch warten. Das Buch kostet 30 GB-Pfund bei Red Dot Cameras in London, für EU-Kunden zzgl. Versand, Zoll, Einfuhrumsatzsteuer und Gebühren – oder voraussichtlich ab Juli 2023 für 49,90 Euro bei Lindemanns in Stuttgart.

*Frank Dabba Smith sagt von sich selbst, dass er nicht „der Autor“ des Buches ist, sondern auf den Schultern vieler engagierter Vorgänger steht und sich selbst eher als „updater“ betrachtet – fair enough, ich habe das geändert (JPR).

7 Kommentare

  1. Glöck,Hans-Peter

    Bericht mit Freude gelesen habe aus Hamburg noch ein Exemplar erhalten,blättere fast jeden Tag darin,Messsucherwelt gefällt mir,sage weiter so!

  2. Super für Menschen die Fachenglisch beherrschen. Deutschsprachige müssen wieder in die Röhre statt den Messsucher schauen nehm ich an.
    Gruß Klaus

    • Joerg-Peter Rau

      Hallo Klaus,
      ich denke, eine deutschsprachige Ausgabe würde sich bei den steigenden Kosten und einem begrenzten Marktpotenzial einfach nicht mehr lohnen. Die 7. Auflage war damals ja in Deutsch noch verfügbar. Das Buch ist aber leicht zu lesen, und mit ein paar Fachwörten wird einem der Inhalt schon klar. Viele Zahlen, die MTF-Diagramme und andere Infos erklären sich ohenhin weitgehend von selbst.
      Grüße, Jörg-Peter

  3. Danke für den Hinweis. Ein schönes Buch. Leider muss ich sehr selektiv sammeln, da mein Bücherschrank über die Jahre voll geworden ist.

  4. Nun weiß ich, was ich Sonntags mit in die Kirche nehme:-)
    Und vielleicht ist es ja doch so etwas wie eine Schöpfungsgeschichte. Immerhin sind wir sein Ebenbild und damit alle kleine Schöpfer. Sollten wir uns mal bewusst machen. Also unsere Leica in die Hand nehmen und was gutes damit schaffen.
    Mich hat immer die Unternehmenskultur von Leitz sehr berührt. Wären deren Produkte nicht so wichtig in dritten Reich gewesen, wären sie für die Unterstützung der Juden abgeführt worden.
    Was es zeigt? Das hinter allem noch ein Mensch steht. Schön, wenn wir uns da noch etwas bewahren können. Und schön dabei, über die Mensche dahinter etwas zu erfahren.

    • Jörg-Peter Rau

      Hallo Kai, ich weiß nicht, ob ich diese Analogie zur Schöpfungsgeschichte auch so gezogen hätte, aber in der Schlussfolgerung hast Du völlig recht. Weniger über Kameras quatschen/lesen/schreiben, mehr fotografieren gehen. Etwas erschaffen, von dem man sagen kann: Es ist gut geworden. Oder: Ich sehe, in welche Richtung es gehen kann. Oder auch: Hey, den Versuch war’s wert. In diesem Sinne viele Grüße! Jörg-Peter

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