Es wird kaum jemanden überraschen, dass sich ein Exemplar der Leica M10 seit einigen Tagen in meinem Besitz befindet. Ich hatte schon vor Monaten dem Händler meines Vertrauens gesagt, er solle mich ganz oben auf die Liste potentieller Käufer setzen. Hat zu meiner Verblüffung geklappt.
Verblüffung, weil im Gegensatz zu früher tatsächlich am Tag nach der Ankündigung schon eine Menge auslieferbarer Modelle bei den Händlern ankam und sofort weitergeschickt wurde. Diese erste “Welle” kam mir zugute, heute hingegen lese ich überall auf den Webseiten der Stores bei der M10 “jetzt vorbestellen”. Doch schon wieder ausverkauft. Ob der Run auf die neuste Reinkarnation einer M solche Formen annimmt, wie damals (2013) bei der M240, als Lieferzeiten bis zu einem Jahr die Leica-Fans zum Wahnsinn trieben, bleibt abzuwarten. Vermutlich sind die Fertigungskapazitäten deutlich erweitert worden.
Als ich den Body das erste Mal in der Hand hatte, konnte ich gleich feststellen: Die vier Millimeter weniger machen die Kamera spürbar schlanker. Man hat noch das Gefühl für die M240 “abgespeichert” (das wird vermutlich bald verschwinden) und im Vergleich dazu macht dieser Unterschied in der Dimension wirklich etwas aus. Sean Reid meinte sogar, die Kamera fühle sich deswegen subjektiv auch leichter an (was sie nicht ist, okay, ein Gramm oder so…), aber das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Sie ist massiv wie ein Bleibarren, wenn überhaupt, fühlt sie sich noch dichter an als die M240. Trotzdem kann ich sie (mit Hilfe der Daumenmulde) ebenso gut oder besser fassen wie die M240, mit der linken Hand am Entfernungsring des Objektivs ist die Kamera gut ausbalanciert. Viele nehmen auch den beliebten “Thumbs up”, aber der ist mir persönlich zu sperrig.

Die Leica M6, M10 und M2 im Vergleich. Bis auf die Höhe fast identische Proportionen

Der Größenvergleich
Ich griff mir gleich meine M6 und hielt sie mal daneben. Bis auf die Höhe fast identische Proportionen. Ein Aussenstehender kann vermutlich den Hype um die Abmessungen gar nicht nachvollziehen, aber für die “Modelltreuen” war es besorgniserregend, dass jedes neue Modell immer mehr zulegte und die klassische “Stück-Seife-Form” allmählich zum Würfel degenerierte. Gelobt seien die Leica-Ingenieure, die Fortschritte der Mikro-Elektronik und die gute Seite der Macht!
Eine neue Art Tragegurt ist auch dabei. Mit dem bin ich nicht so glücklich. Wahrscheinlich gehöre ich zu den wenigen, die immer den bisher üblichen Gurt gern benutzt haben, offenbar bevorzugen viele irgendein “Fancy”-Teil (sei ihnen gegönnt). Ich fand den alten Gurt sehr passend und praktisch, vor allem in der Länge verstellbar. Der Neue ist aus Leder und hat diese Möglichkeit nicht. Es ist fast so, als ob Leica stillschweigend annimmt, dass sowieso keiner den mitgelieferten Gurt benutzt. Ausser mir! Ich mag diese vielfarbigen Lederdinger nicht, die manche an ihre M klinken, kommt mir so vor, als würde ich zum Smoking eine bunte Pudelmütze tragen. Na gut. Geschmacksache.

Gleich mal die ISO-Grenzen austesten. Porträt bei Kerzenlicht als einzige Lichtquelle, Leica M10 mit 50mm Summilux, 12500 ISO. Keine Rauschunterdrückung.
Komponenten
Das Layout der Bedienungselemente ist deutlich übersichtlicher geworden, drei große Knöpfe statt fünf kleiner links des Monitors sind selbst mit klammen Fingern und bei Dunkelheit sicher zu finden. Leider ist der Simplifizierungswahn an einer Stelle über das Ziel hinausgeschossen: Der Ein/Aus-Schalter ist jetzt nur noch das, keine Stellung mehr für Einzel- oder Serienaufnahme, vor allem fehlt mir die Selbstauslöserstellung. Dafür muss man jetzt ins Menü gehen und unter “Bildfolge” diese Option auswählen.

Ebenfalls extrem: Freilaufendes Pferd in (dunkler) Reithalle. M10 mit 90mm Macro-Elmar bei f/4.0 1/500 sec ISO 12500. Bild in LR in S/W überführt, Rauschunterdrückung + Profilkorrekturen genullt. Dazu aus dem ursprünglichen DNG freigestellt (“ausgeschnitten”), das Bild ist nur halb so groß wie die Originalaufnahme. Die Datei zeigt eine ähnliche Körnung wie ein mit Kodak Tri-X aufgenommenes Foto. Nebenbei: Soviel zu Behauptungen, man könne mit manuellem Fokus nur statische Szenen fotografieren. Mit etwas Übung und der richtigen Technik ist das kein Problem.
Der Sucher ist eindeutig größer (ob heller, sei dahingestellt. Der Sucher der M240 war auch o.k.), mit Brille kann ich die Rahmenlinien bei 35mm vollständig sehen. Für 28mm muss man wie ein Chamäleon in die Bildecken schielen. Das ist für Messsucher-Routiniers nichts neues und keine Überraschung, daran hat man sich bei der Bildkomposition längst gewöhnt. Schön, dass der Auswahlhebel für die Rahmenlinien zurück ist (der “Bildfeldwähler”), ich persönlich hatte ihn bei der M240 vermisst (viele auch nicht).
Ein paar Schwarzweissbearbeitungen aus der M10 (Lightroom)
Der neue ISO-Auswahl-Knopf, der sich dort befindet, wo bei analogen Modellen der Rückspul-Knopf war, ist eine konsequente Design-Entscheidung unter der Kategorie “Form follows Function”. Jetzt hat man wirklich mit einem Blick auf die Kamera selbst bei ausgeschalteten Zustand alle Belichtungspaprameter (Blende, Belichtungszeit, ISO) sofort vor Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine einzige andere (digitale) Kamera gibt, auf die das zutrifft (Update, 03.02.17: Mein Freund Volker machte mich darauf aufmerksam, dass seine Fuji XT-2 ebendas hat. Irgendwo in einer entfernten Ecke meines Gedächtnisses hatte ich das auch abgespeichert, darum hatte ich auch im vorangegangen Blog zur Einführung dieses Auswahlknopfs “Danke, Fuji!” gesagt). Der ISO-Knopf muss angehoben werden, um ihn aus der Arretierung zu lösen. Sehr sinnvoll, ich dachte gleich an den Belichtungs-Korrektur Knopf bei den Fujis, der immer die unselige Tendenz hat, sich selbst zu verdrehen.
Apropos Belichtungskorrektur: Jetzt wie bei der Leica Q einfach mit dem Rad neben der Daumenmulde rechts, ohne dass man noch zusätzlich andere Knöpfe betätigen muss und sich dabei fast die Mittelhand bricht.

Eiskalter Morgen an der Weser, Leica M10 mit 35mm Summilux
Das Menü ist total überarbeitet worden, vor allem ist das “Set-Menü” ganz verschwunden (good riddance!). Dafür kann man bei Aufrufen seine meist gebrauchten Menüpunkte auf der ersten Seite selbst auswählen. Also schneller Zugriff ohne scrollen und durchforsten von 1000 Untermenüs. Es ist insgesamt gestrafft, allein durch die fehlende Videofunktion fällt einiges weg, aber mir fiel auch auf, dass es bei Bildformat/DNG keine Auswahl zwischen Komprimiert oder Unkomprimiert mehr gibt. Umso besser, dass einem die Qual der Wahl erspart bleibt. Ich hatte früher immer “komprimiert” gewählt, weil es hiess, dies sei sowieso verlustfrei. Die Dateigröße der früheren DNG’s schwankte meist zwischen 24 und 29MB, während die aus der M10 bei 29 bis 34MB liegen, also kein abartiges Aufblähen der Dateien, das ist auch der weisen Entscheidung geschuldet, bei 24MP zu bleiben.
Update, 30.01.17: Aus einem Interview mit Jesko von Oeynhausen (Produkt Manager bei Leica) konnte ich entnehmen, dass es sich bei den DNG’s der M10 um die verlustfrei komprimierte Form handelt. Man hat die Option “unkomprimiert” einfach weggelassen, weil der Unterschied (ausser dass die Datei größer war) für die Qualität der Bilddatei keine Rolle spielt. Eigentlich sollte auch die Dateigröße im Vergleich zur M240 nahezu identisch sein, es kann Zufall sein, dass die Bilddateien, die ich ansah, bei der M10 alle tendenziell größer waren.
Der Monitor hat höhere Auflösung als bei der M240, vor allem aber kann man bei Live-View (endlich!) den Fokuspunkt verschieben. Einfach die Kreuzwippe anticken, damit steuert man ein “Zielkreuz”, wohin bei bewegen des Entfernungsrings oder bei drücken des Knopfs vorne neben dem Objektiv vergrößert wird. Fokuspeaking mit roten Linien macht die Sache dann leicht. Leider ist die Wasserwaage wegrationalisiert, schade. Das Histogramm wird jetzt nicht mehr so aufdringlich dem Rückschaubild überlagert, sondern erscheint etwas kleiner auf der linken Seite.
Wenn die Kamera an ist und weder Bildrückschau noch Menü aufgerufen sind, bringt ein Druck auf den Set-Knopf in der Mitte der Kreuzwippe den Info-Bildschirm (wie auch zuvor bei der M240). Dieser wurde ebenfalls überarbeitet. Zentral fällt der Blick sofort auf den Stand der Belichtungskorrektur, aber die oft wichtigste Information ist der Batteriestatus. Oben links zeigt ein langer Balken diesen sehr deutlich und differenziert an. Schon nützlich, vor allem wenn man bedenkt, dass die drei winzigen Balken in einem Batteriesymbol bei anderen Herstellern dazu neigen, von “voll geladen” plötzlich auf “fast leer” zu springen. Oben rechts ein der Batteriestatusanzeige gleichartiger Balken für den Zustand der Speicherbelegung der SD-Karte, im unteren Bereich Angaben über das Objektiv (wenn es codiert ist), Anzahl verbleibender Fotos, Belichtungsmess-Methode, ISO, Bel.-Zeit, Weissabgleich, Bildfolge, Dateiformat, Status des Zeitrads (Manuell oder Automatik). Trotz all dieser Angaben wirkt der Schirm nicht überfrachtet, die wichtigsten Informationen sind durch das Design am meisten hervorgehoben.

Flötenkonzert, M10 mit 50mm Summilux bei 1/125sec, f/1.4 ISO 1000, keine Rauschunterdrückung oder Profilkorrektur. Wenn auch nichts über die Lautlosigkeit des Verschlusses der Leica Q geht (oder einer Fuji X100), so ist die M10 diskret genug, um bei einem Kammerkonzert störungsfrei Bilder zu machen.
Wenn man mit der Bedienung von Messucherkameras vertraut ist, kann man mit der M10 sofort loslegen und hat das gewohnte Gefühl. Der Auslöser ist marginal leiser als bei der M240, und das ist immer willkommen. Selbst mit Live-View ist die Zeit, in der das Bild verschwindet, deutlich kürzer. Ich war erst ein wenig enttäuscht, dass es keinen elektronischen Verschluss gibt (aber wer weiß… Fuji hat das auch mit einem Firmware-Update nachträglich bei den X-Kameras eingeführt), aber der niedrigere Basis-ISO-Wert von 100 macht bei nicht zu hellen Tageslicht-Situationen auch fotografieren mit Offenblende ohne lästiges ND-Filter-Geschraube möglich.

Abends in Rinteln, Leica M10 mit 21mm Super-Elmar. ISO 6400, keine Rauschunterdrückung
Ich brenne schon darauf, die längere maximale Belichtungszeit (120 Sekunden) bei Nachtfotografie anzuwenden, Auto ISO habe ich auf höchstens ISO 12500 gestellt. Dies entspricht vom Rauschverhalten her etwa ISO 3200 bei der M240, also ein Gewinn von 1 1/2 bis 2 Blendenstufen. Ich wäre überrascht, wenn der Sensor Invariant wäre, aber dennoch lassen sich unterbelichtete Bildbereiche in den DNG’s gut anheben. Wie bei vielen modernen Sensoren stellt sich mal wieder die Frage, ob der alte Grundsatz “expose to the right” nicht inzwischen obsolet ist. Man kann heute die Highlights schonen, ohne dass die Schatten “absaufen”. Eine moderate Unterbelichtung vor allem bei Szenen mit sehr hellen Lichtquellen ist zu empfehlen.

Langzeitbelichtung mit Ministativ. Leica M10 mit 35mm Summilux bei ISO 100
Die Farben der Bilder erinnern mehr an die der Leica Q (obwohl diese einen anderen Sensor hat). Ebenso wie der Weissabgleich ist das gegenüber der M240 eine Verbesserung. Ein Wort zum Postprocessing in Lightroom CC: Schön, dass es bereits ein Profil für die M10 gibt, aber was haben die bei Adobe sich dabei gedacht, dass bei jedem importierten DNG sofort die Objektiv-Profilkorrekturen und CA-Entfernung aktiviert sind und obendrein je nach ISO bereits Rauschunterdrückung angewendet wird? Jetzt muss ich jedes Mal die Häkchen entfernen und die Rauschunterdrückung nullen. Total nervig! Solche Sachen will ich selbst entscheiden! Was mir auch fehlt: Der geschätzte Wert der tatsächlich benutzten Blendenöffnung wird nicht mehr in den Exif-Daten angezeigt. Auch wenn der nicht immer genau war, fand ich das zur Orientierung hilfreich.
Update 26.01.17: Kurze Suche im Netz ergab (meine Quelle hier), dass das Problem offenbar in den DNG-Dateien liegt, die irgendwie noch nicht so “durchgestylt” sind, wie sonst bei Leica üblich. Möglicherweise aus Zeitmangel, um den Start der Kamera nicht zu verzögern. Das schreit natürlich nach einem Firmware-Update. Die Kommandos an das Entwicklungsmodul in Lightroom müssen weg und die errechneten Blendenwerte wieder her.
Update, 31.01.17: Voraussichtlich kommt nächste Woche eine neue Firmware-Version. Man darf gespannt sein, ob sich da schon etwas ändert.

Bei den Fohlen. Leica M10 mit 35mm Summilux bei f/1.4 1/45 sec ISO 200 S/W-Bearbeitung aus Lightroom, alle Profilkorrekturen + Rauschunterdrückung genullt

Die Schlankheit hat auch andere Konsequenzen: Der Akku muss auch schmaler sein und hat infolgedessen etwa ein Drittel weniger Kapazität als der der M240. Naja. Nachdem ich es nur selten geschafft habe, bei einem Shooting mit der M240 den Akku zu leeren, komme ich wohl bei der M10 mit einem Ersatzakku zusätzlich aus.
Ich konnte die M10 aus Zeitmangel noch nicht so “ausführen”, wie ich das gerne wollte, aber bei den Gelegenheiten, die ich hatte, war da das gewohnte Messsucher-Gefühl. Die Kamera ist ein zuverlässiges Werkzeug ohne Schnickschnack, in vielen Kleinigkeiten in der Bedienung verbessert, was in der Summe einen deutlichen Schritt nach vorn darstellt. Eine konsequente Weiterführung der Evolution der digitalen M-Kameras mit Rückbesinnung auf alte Werte. Mit der Einführung der Leica SL kann die M10 wieder eine reine Messsucherkamera sein und braucht nicht mehr als “Hansdampf in allen Gassen” zu fungieren.
Nur… über eins sollte man sich im Klaren sein. Sollte jemand glauben, er könnte mit der M10 so viel bessere Bilder machen als mit einer M240 oder vielleicht sogar einer M9, dann täuscht er sich gewaltig. Sicher, er stößt bei den älteren Kameras mit ISO und Dynamik schneller an Grenzen, aber bei den meisten “normalen” Belichtungssituationen sind das ebenso zuverlässige Werkzeuge wie das neuste Modell. Und “Werkzeug” ist hier das Schlüsselwort. Denn der Fotograf macht die Bilder, er komponiert und sucht sich das Licht, löst im richtigen Moment aus. Und wenn man kein Auge dafür hat, nützt auch die tollste Kamera nichts. Mit dem Meissel von Michelangelo holt auch nicht jeder einen “David” aus einem Marmorblock.
Ich bin mir sicher, dass mir die M10 wie die M240 in den nächsten Jahren treue Dienste leistet. In Verbindung mit der Leica Q gibt es eigentlich für meine fotografischen Belange nichts, was ich noch zu wünschen übrig hätte.

Der Start der M10 hat wieder eine Lawine von missgünstigen Kommentaren im Netzt losgetreten. Nach all den Jahren ist man das ja inzwischen gewöhnt. Die Q war etwas enttäuschend für die Leica-Hasser, zu wenig Grund zum trashen, aber bei so einer M, da gibt’s genug zu meckern. Immer dasselbe natürlich. In der Hinsicht bin ich schon lange abgehärtet. Aber zu dem Thema fiel mir ein Szenario ein, das ich hier zum Besten gebe:
Hands on mit Sauron
Zwei Tage nach der Vorstellung der Kamera übergab mir der DHL-Bote das Paket mit der neuen Leica M10. Wie nur, dachte ich, konnte er dabei so indifferent schauen, und wo war der Chor aus Jungfrauen, die dazu “Freude, schöner Götterfunken“ fortissimo schmetterten?
Der Inhalt, ein silberner Pappquader, brannte schon ein Loch in meinen Schreibtisch, aber ich hielt mich mit dem “Unboxing“ noch zurück. Mir war nämlich ein Gedanke gekommen. Die Ankunft der M10 hatte mal wieder den Leica-Hassern den Schaum vor den Mund getrieben und das Netz war voll mit deren Häme. Warum nicht versuchen, mal einen dieser Brüder von dem Produkt zu überzeugen? Eine herkulische Aufgabe, und ich wusste auch schon, wer in Frage kam.
Nach seiner Niederlage am Mount Doom hatte sich Sauron, der dunkle Herrscher Mordors, in unserem Städtchen niedergelassen. Er wohnte zur Untermiete bei einem gewissen Günter Ollum, der mir als Fachverkäufer für Anglerbedarf bei örtlichen Agrarhändler aufgefallen war. Der putzige kleine Typ kam mir gleich merkwürdig vor und nach kurzem Verhör meinerseits bestätigte sich mein Verdacht. Er hatte von Angeln keine Ahnung, weil er Fische offenbar grundsätzlich nur mit bloßen Händen fing. Außerdem verplapperte er sich mit abstoßend feuchter Aussprache in Bezug auf seinen Mitbewohner. Ich erfuhr, dass Sauron seine finsteren Aktivitäten nunmehr voll und ganz aufs Internet konzentrierte, und da hatte er natürlich reichlich Gelegenheit, das “Böse“ in Reinform zu verbreiten.
Ich griff also die Box mit der M10 und machte mich auf den Weg zur Burgruine, wo der Finsterling hauste. Auf dem Klingelschild stand “G.Ollum/ S.Auron (D.L.)“. D.L.? Wofür stand das denn? Ach, vermutlich für “Dark Lord“. Ich drückte mutig den Knopf, der mir aus dem Fingerknöchel eines Orks gefertigt schien. Im Inneren ertönte daraufhin der langgezogene, markerschütternde Schrei eines Nazgul. Ich musterte einen Zettel mit dem Vermerk “Keine Hobbits oder Werbung“ und ein Foto von Orlando Bloom auf der Tür, unter dem zu lesen war: “Elben – Wir müssen leider draußen bleiben“.
Kaum war der Schrei verhallt, quäkte die Gegensprechanlage: »Wer wagt es, mich zu stören?«
»Äh, Sauron? Ich hab hier die brandneue Leica M10, ich dachte, wir könnten zusammen einen Blick darauf…«
»Ich empfange nur Gestalten der Finsternis!!«, jodelte im Falsett aus dem winzigen Lautsprecher. »Wer oder was bis du, Sterblicher?«
»Ich bin hier der Zahnarzt«, stotterte ich verunsichert. Nach kurzer, verblüffter Pause summte das Türschloss. »Das kann ich gelten lassen«, gab er widerstrebend Bescheid.
Ein Treppenabgang führte mich in den feuchten Keller der Burg, wo der Ex-Ring-Lord seinen Schlupfwinkel hatte. Ich bahnte mir einen Weg durch allerlei Müll, vor allem leere Pizzakartons. Die einzige Beleuchtung in dem Kreuztonnen-Gewölbe war ein flackernder 27 Zoll-Monitor auf einem Schreibtisch, vor dem ich die hagere Gestalt Saurons sah. Seine gespenstisch beleuchteten Gesichtszüge waren eingefallen, sein Haar schütter.
Ich deutete auf den Desktop. »Windows 7?«
»Windows Vista!«, sagte er mit Grabesstimme. »Ich liebe dieses Betriebssystem. Hat Tausende in den Wahnsinn getrieben.« Er sah mich aus tiefliegenden Augenhöhlen an, die Mundwinkel verzogen sich spöttisch, als sein Blick auf den Silberwürfel unter meiner Armbeuge fiel. »Soll da etwa die Wunderkiste drin sein, für die die Leica-Fan-Boys ihre Vitrinen abstauben? Ich hab das Ding schon in jedem Forum getrasht«, kicherte er schadenfroh.
Über seine Schulter sah ich auf dem Bildschirm die geöffnete Kommentarleiste von DPreview. »Schreibst du wieder Troll-Kommentare?«, fragte ich misstrauisch.
»Ich schreibe nur Bergtroll-Kommentare!«, krächzte er würdevoll.
»Wo ist der Unterschied?«, wollte ich wissen.
Er fixierte mich mit blutunterlaufenen Augen. »Sie sind noch fieser!«
Ich zuckte mit den Schultern und öffnete den Karton. Er fiel elegant auseinander und legte einen Schrein frei. Sauron grunzte missbilligend. »Fluff! Fluff für die Snobs, die sich den Schrott kaufen! Fehlt nur noch, dass ein eingebauter Grußkartenplayer eine Midi-Version von “We are the Champions“ oder so dudelt!« Er spuckte auf den Boden. Eine Kakerlake nahm Reißaus.
Inzwischen hatte ich andächtig die Kamera aus dem oberen Behälter genommen und einen Akku eingelegt. »Wenigstens ist das Teil der Wertschätzung seiner Käufer entsprechend würdig präsentiert. Nicht wie bei Sony, die die A7 einpacken als wär’s ein Reisefön«, konterte ich und genoss das Feeling der Kamera. So schmal wie meine M6. Nice.
Sauron schulterte mich unwirsch zur Seite und nahm sie mir ab. »Lass sehen! Hah! Kein Blitz! Kein Autofokus! Keine Bildstabilisierung!« Ich würdigte ihn keiner Antwort. Er wog sie in der Hand. »Hmm. Ein paar Stacheln dran, und sie ist prima als Morgenstern zu gebrauchen«, grinste er hämisch.
Ich setzte ein Objektiv an den Body und schaltete die Kamera ein. »Schau mal durch den Sucher!«, forderte ich den dunklen Herrscher auf. »Das allsehende Auge braucht keinen Sucher!«, schnauzte Sauron, guckte aber trotzdem durch.
»Und? Dumpfbackige Sucherrahmen, viel zu ungenau«, nörgelte er gereizt.
Ich war genervt. Der große und helle Sucher liess ihn natürlich kalt. »Jaaa, sicher, ein Superfotograf wie du macht natürlich immer pixelgenaue Bildkomposition, sehr realistisch. Wenn du das willst, gibt’s immerhin Live-View«, dabei betätigte ich die Taste. Der Monitor kam zum Leben. »Man kann jetzt mit der Kreuzwippe den Fokuspunkt aussuchen«, ich drückte, und ein kleines Kreuz wanderte über den Schirm.
»Oooh«, höhnte Sauron, »danke, Leica! Was andere Kameras seit zehn Jahren können, kannst du jetzt auch! So cool!« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Ich ignorierte das, der Wicht hatte leider gar nicht mal so unrecht. Stattdessen griff ich ans Objektiv.
»Hier, wenn du den Entfernungsring drehst, kommt die Vergrößerung…«, ich kam nicht weiter. Der dunkle Lord hatte sich plötzlich aufgerichtet. Sein Blick ging ins Leere.
»Ring. RING! EIN RING, SIE ZU KNECHTEN, SIE ALLE ZU FINDEN, INS DUNKEL ZU TREIBEN UND EWIG ZU BINDEN…«, deklamierte er mit Stentorstimme wie von Sinnen.
Ich gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Entfernungsring, du Depp! Die Vergrößerung springt dann an. Klaro?«
Er hatte sich wieder gefasst. »Äh, was? Wie auch immer… alles Quatsch. Hier, das ist was Richtiges!« Er deutete auf ein Regal, neben einer Donald-Trump-Fanartikelsammlung lag ein Mörderteil von DSLR (ich verschweige aus Gründen der Diskretion die Marke) mit Riesenobjektiv.
»Was hältst du davon?«, fragte er lauernd.
Ich musterte das Ding skeptisch. »Ahem, sehr… phallisch«, antwortete ich zögerlich.
Der dunkle Lord redete sich in Rage. »Das nenne ich eine Kamera! Vollformat, fünfzig Megapixel, 100 Knöpfe, 27 000 Menüpunkte und furchteinflössend wie ein Heckler und Koch Maschinengewehr! Jeder zittert vor dem Foto!«
»Ja«, stimmte ich ihm anerkennend zu, »da triumphiert das Böse schlechthin! Vielleicht sollte man das Teil besser in einen Vulkan werfen!«
Sauron schnappte über vor Wut. Ich hatte offenbar einen wunden Punkt getroffen. »Hinweg, Sterblicher, bevor ich das Fleisch von deinen Knochen in Fixierer ablöse!«
Ich packte resigniert meinen kleinen Knipskasten wieder ein und verließ Saurons Keller. Hinter mir ertönte das grauenhaft hohle Lachen des dunklen Lords. Ein Leica-Hasser ist eben unverbesserlich auf der dunklen Seite der Macht.
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