Eine Leica M ohne Messsucher? Puristen erschaudern. Ist das nicht ein Angriff auf… „das Wesentliche“, das Leica doch sonst so sehr vor sich herträgt? Ist die M EV1, in Ermangelung des namensgebenden Messsuchers gar keine M? Oder füllt sie eine wichtige Lücke und könnte zu einem Zukunftsbaustein der Traditionsmarke werden? So oder so, seit kurzem ist die in den Leica Stores, Zeit also für ein Leica M EV1 Hands-On.

Dass es die M EV1 überhaupt gibt, ist eine Geschichte für sich. Mike Evans von Macfilos, der beim Treffen der Leica Society International (LSI, früher Leica Historical Society of America, LHSA) in Dublin 2022 dabei war, berichtet in diesem ausführlichen Artikel darüber. In Kurzform: Teilnehmer (und in dieser Gesellschaft sind seeeehr wichtige Kunden vertreten) fragten dort Stefan Daniel von Leica einmal mehr nach einer M mit elektronischem Sucher. Das Thema war ja auch damals schon nicht mehr ganz neu, aber die Antwort war neu und lautete sinngemäß: Wenn Kunden sie haben wollen, bauen wir so eine Kamera. Und tatsächlich, im Oktober 2025 kam sie auf den Markt. Angekündigt passenderweise im Kontext der LSI-Jahreskonferenz in Montreal.

Eine Leihgabe macht das M EV1 Hands-On gleich zur Markteinführung möglich

So kam sie also in die Welt, die Leica M EV1. Sie war und ist, was bei der Marke eher ungewöhnlich ist, gleich zu Markteinführung auch tatsächlich verfügbar. Kein Frust mit Wartelisten, auf die sich interessierte Kunden gleich mehrfach schreiben lassen, wodurch ein völlig überzogenes Bild von der vermeintlichen Nachfrage entsteht. Aber eben auch nicht der krasse Ansturm und damit verbunden das Gefühl, sich auf etwas ganz außerordentlich Rares freuen zu können. Die Kamera ist also lieferbar, und ich durfte für das Leica M EV1 Hands-On die Demo-Kamera des Leica Store Konstanz ausleihen. Das als Disclaimer, vor allem aber als Dankeschön an das engagierte Team dort.

Was das Leica M EV1 Hands-On nicht bieten kann: eine Antwort auf die Frage, ob diese Kamera nun eine M sei oder nicht. Sie steckt exakt im Gehäuse der M11 und steht somit in der 1954 mit der M3 begründeten Tradition und Formsprache. Sie hat das M-Bajonett, einen der langlebigsten Standards der Fotografie, und ermöglicht es, völlig unkompliziert 70 Jahre alte Optiken anzusetzen, als stammten sie aus dem Jahr 2025 und nicht auf den 50er-Jahren. Aber sie hat eben keinen Messsucher, sondern den elektronischen Sucher. Muss jede und jeder selbst wissen, ob das M hier also sehr passend oder eher anmaßend ist.

Nicht statt, sondern zusätzlich zum Messsucher

Bevor man die neue Kamera zum Einsatz bringt und das M EV1 Hands-On beginnt, ist es vielleicht gut, nochmal kurz zu überlegen, wofür diese Kamera eigentlich überhaupt gebaut wurde, und sich dafür konkrete Anwendungsfälle zu überlegen. Denn niemand, aber auch wirklich niemand, hat bei Leica je behauptet, dass der elektronische Sucher den Messsucher ersetzen soll. Schauen wir also, nachdem die Messsucherfotografie schon eine krasse Nische ist, auf die Nische in der Nische (oder auf die Nische am Rand der Nische).

Use Case 1: Nicht mehr so gute Augen

Die Leica M EV1 hat den elektronischen Sucher der Q3 (Details zur Kamera zum Beispiel hier). Er löst sehr fein auf und hat eine eingebaute Dioptrienkorrektur. Wer sonst eine Brille braucht, altersbedingt oder auch sonst, wird das zu schätzen wissen. Das Sucherbild ist schön hell und Leica-typisch aufgeräumt. Zum manuellen Scharfstellen gibt es Fokus Peaking und eine Sucherlupe. 

Das ist brauchbar, aber nicht annähernd so gut gelöst wie die MF-Assistenten bei aktuellen Canon- oder Nikon-Kameras. Die allerdings beruhen auf der Fokussierung „by wire“ und erfordern eine elektronische Verbindung zwischen Objektiv und Kamera. Beides ist bei M-Mount systembedingt nicht zu machen. Trotzdem für manche Nutzer sicher ein gangbarer Weg, wenn man das M-Feeling will und mit dem Messsucher nicht oder nicht mehr so gut zurechtkommt.

Use Case 2: Hochlichtstarke Objektive

Schon ein Summilux 50 hat auf nahe Distanz und bei voller Öffnung einen sehr schmalen Schärfebereich. Beim Noctilux schrumpft das auf Millimeter (hier kann man‘s berechnen), da sind dann entweder die Wimpern oder die Iris scharf, und 60 Megapixel sind unerbittlich. Auch hier kann ein hochaufgelöster elektronischer Sucher mit Lupe und Fokus Peaking helfen. Allerdings markiert das Peaking halt den Bereich des größten Kontrasts, und der kann auch im Bildhintergrund liegen, etwa bei Gegenlicht; man denke nur an die berüchtigten dunklen Zweige gegen strahlend hellen Himmel.

Das wurde bei meinem M EV1 Hands-On mehrfach deutlich – gilt aber auch für alle anderen Systemkameras mit elektronischem Sucher. Dennoch werden manche Fotografen auf diesem Weg eine höhere Trefferquote bei kritischen Aufnahmen erreichen. Das gilt übrigens auch für andere Objektive, insbesondere solche mit einem stark ausgeprägten Schärfeabfall wie die Apo-Summicrone.

Use Case 3: Lange Brennweiten

Hier waren meine Erwartungen an das M EV1 Hands-On besonders hoch. Mit dem zurecht hochgelobten Apo-Telyt 3.4/135 war ich bei offener Blende und auf Nahdistanz mit dem 0.72er-Standard-Messsucher nie besonders erfolgreich. Eine Fokuslupe, wie sie mit dem umfunktionierten Leuchtrahmen-Wahlhebel übrigens sehr einfach und elegant aktiviert werden kann, scheint hier also überaus nützlich.

Ist sie im Prinzip auch, aber: Durch den noch verstärkten Tele-Effekt, der je nach Vergrößerungsfaktor schnell in Richtung 300er oder sogar 500er gehen kann, braucht es a) eine sehr ruhige Hand und b) ein einigermaßen statisches Motiv. Für Tiere oder Menschen in Bewegung haut‘s nicht so gut hin. Und es fehlt eine Stabilisierung. Diese bieten M-Objektive natürlich nicht, aber die die M EV1, anders als andere Spiegellose, eben auch nicht.

Use Case 4: Kurze Brennweiten

Der Messsucher aller bisherigen Ms deckt gerade noch die 28er Brennweite ab (der 0.85er-Sucher sogar nur die 35mm). Für weitere Bildwinkel, etwa vom M-Klassiker 21mm, braucht es Wagemut oder einen Aufstecksucher. Da ist die elektronische Variante wirklich hilfreich. Allerdings haben die weniger lichtstarken Optiken von Haus aus so viel Tiefenschärfe, dass das Fokussieren nicht ganz so einfach ist (aber es ist vielleicht auch nicht die extreme Präzision notwendig, insbesondere auf 5,6 abgeblendet).

Ich konnte in meinem M EV1 Hands-On kein superlichtstarkes Superweitwinkel probieren, aber ein Test mit dem ausgezeichneten 2,8/24 (leider schon lange eingestellt) war bereits sehr erhellend. Wenn man da Objekte außerhalb der Bildmitte scharf haben will, ist der elektronische Sucher Gold wert, insbesondere in Verbindung mit der frei beweglichen Fokuslupe. Das scheint mir tatsächlich auch der beste (und gar nicht so seltene) Anwendungsfall für diese spezielle Kamera zu sein. Wer also ein Summilux 21 oder 24 sein eigen nennen darf oder auch das Voigtländer Nokton 1,4/21 (hier in den M-Files besprochen), ist mit der M EV1 ausgezeichnet beraten!

Nach dem Leica M EV1 Hands-On: erste Gedanken zur neuen Kamera

Ganz ehrlich: Ich habe großen Respekt davor, dass Leica diese Kamera tatsächlich auf den Markt gebracht hat. Das Unternehmen hat damit auf einen Kundenwunsch gehört und kann zugleich einen Markt antesten. Dass die M EV1 nicht alle überzeugen würde, hat man in Wetzlar mit Sicherheit gewusst. Und dass da technologisch noch Luft nach oben ist, gewiss auch. Trotzdem hat man sich entschieden, genau jetzt mit genau diesem Produkt rauszukommen.

Mir ganz persönlich hat das Leica M EV1 Hands-On tatsächlich mehr Spaß gemacht, als ich zunächst erwartet habe. Ich mochte den Messsucher ja seit jeher, habe damit (fast) immer scharfe Bilder hinbekommen und setze für andere Zwecke auf Autofokus-Systeme, die inzwischen unfassbar gut funktionieren. Und trotzdem hat diese neue „M“ eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt, und die ist auch nicht kleiner geworden.

Den besten Anwendungsfall für diese Kamera finde ich die Arbeit mit sehr lichtstarken Weitwinkeln. Da kann der elektronische Sucher punkten, indem er exakt das abbildet, was nachher auf dem Foto sein wird. Und dank Lupenfunktion lässt sich auch bei einem, sagen wir, 21er Summilux (oder einem Voigtländer, TTArtisan…) die Schärfe sehr exakt und außerhalb der Bildmitte setzen. Hier fällt auch die fehlende Stabilisierung am wenigsten ins Gewicht.

Und was sind die Alternativen?

Bleibt also die Frage, ob es für ein – zumindest aus meiner Sicht – beschränktes Nutzungsszenario eine M EV1 sein muss. Als Alternativen bietet sich zunächst eine aktuelle M11 (mit oder ohne -P, neu oder gebraucht und auf Wunsch sogar ohne Display und dafür etwas teurer) mit dem Visoflex 2 zur M11 an, der allerdings eine geringere Auflösung hat und der M ihr elegantes Aussehen nimmt. Dafür lässt er sich nach oben klappen, was gar nicht unpraktisch ist. Und für die Brennweiten von 28 bis mindestens 75 Millimeter steht der klassische Messsucher mit all seinen Tugenden zur Verfügung. Das könnte man fast als das Beste aus beiden Welten bezeichnen, wenn der Visoflex noch ein bisschen mehr bieten würde.

Die andere Möglichkeit ist eine spiegellose Systemkamera mit M-Adapter. Gerade bei den M-Weitwinkeln können aber die Nikons, Canons und Sonys nicht in jedem Fall überzeugen. Dafür aber die Leica SL, die mit dem Original-Adapter sogar den 6-bit-Code des Objektivs ausliest. Das aktuelle Modell SL3 (hier auf Macfilos ein Langzeittest von Jono Slack) hat einen ausgezeichneten, großen Sucher und bringt eine Sensor-Stabilisierung (IBIS) mit, ebenso ein klappbares Display und einen sehr ergonomischen Handgriff. Sie kostet deutlich weniger als die M EV1. Und sie lässt die Option auf Autofokus und all die anderen Unterstützungsfunktionen zu, dank einer riesigen Palette von L-Mount-Objektiven in wirklich allen Preisklassen. Aber sie ist größer, schwerer – und sieht nicht aus wie eine M.

Meine Erkenntnis aus dem M EV1 Hands-On, kurz und knapp

Was also bleibt vom Leica M EV1 Hands-On in einem Satz? Es ist sehr cool, dass es diese Kamera gibt, und Leica ist Erfolg damit zu wünschen – auch wenn sie mich persönlich bisher nicht restlos überzeugt hat.


Mehr Lesestoff, der über mein Leica M EV1 Hands-On weit hinausgeht, gibt es hier:

Blog-Gastgeber Claus Sassenberg hat erste Reviews in bewundernswerter Detailarbeit zusammengetragen.

In diesem Macfilos-Artikel beantwortet der schon erwähnte Stefan Daniel die Fragen der Experten Bill Rosauer und Amitava Chatterjee zur neuen Kamera.

Mike Evans geht hier vertieft auf die Leica-hausinterne „Konkurrenz“ zur neuen M EV1 ein und gibt Einschätzungen für die praktische Anwendung

Ein Kommentar

  1. Olaf Reichardt

    Kompliment und Respekt!
    Einer der sachlichsten und aussagekräftigsten Beiträge über diese offensichtlich kontrovers diskutierte Kamera.
    Ich nutze sie jetzt fast 4 Wochen, hatte eine erste, große Euphorie, stelle aber in der täglichen Fotopraxis erste Nachteile und damit auch eine Ernüchterung fest. Ein finales Fazit folgt in Kürze.

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