Leica M EV1 – Editorial
„Wir formen unsere Werkzeuge, und danach formen unsere Werkzeuge uns.“ (Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik)
Vor kurzem erklärte ich einem Patienten, was auf dem Röntgenbild vor uns auf dem Schirm zu sehen war. Wie die dichtesten Strukturen hell und die durchlässigsten dunkel dargestellt werden und eigentlich sei dieses Bild ein Negativ. Er sah mich verwirrt an und fragte: „Was ist ein Negativ?“
Er war nicht Gen Z sondern schon um die dreissig Jahre alt und mir wurde in dem Moment klar, dass solche Dinge nicht mehr Allgemeinwissen sind. Und warum auch?
Die Leica M EV1 ist letzten Donnerstag offiziell enthüllt worden. Ich stelle mir vor, wenn ich jemandem aus der Altersgruppe oder gar jüngeren diese Kamera präsentiere, könnte ich recht schnell die Grundfunktionen erklären und der elektronische Sucher wäre als zentraler Bestandteil für das notwendige manuelle Fokussieren völlig innerhalb der Welt, wie sie sie verstehen.
Ausserdem sehen sie das Bild, ja, den genauen Bildausschnitt (unabhängig von der Brennweite), das Bokeh oder die Tiefenschärfe und wie das Bild belichtet ist, ohne irgendeine Ahnung von Blende oder Belichtungsparametern zu haben. Sie sehen sofort, was herauskommt.
Wenn ich hingegen dann den Messsucher erkläre und sie das Konzept von unterschiedlichen Brennweiten und den dafür notwendigen Sucherrahmen (und ausserhalb der Rahmen kommt nichts aufs Bild!) verstehen müssen, sie dazu nicht wissen, welchen Einfluss die Blendenöffnung und die Belichtungsparameter überhaupt auf das Foto haben, sondern sie sich das halt vorzustellen haben (vor ihrem geistigen Auge oder wie auch immer), könnte es sein, dass vor Ende der Erklärung ein gewisses Aufmerksamkeitsdefizit eintritt.
Was nicht heisst, dass nicht auch Jüngere gerade das alles als Challenge betrachten, ohne Mühe erlernen und zu schätzen wissen, was ein optischer Messsucher bietet.
Umgekehrt gibt es genügend Foto-Enthusiasten, die „null Bock“ auf einen Messsucher haben, aber den Formfaktor plus Bedienkonzept einer M verbunden mit der schier unendliche Auswahl an Objektiven attraktiv finden. Man kann zwar an alle möglichen Kameras M-Objektive adaptieren, aber das heisst nicht, dass sie darauf eine optimale Performance liefern, insbesondere Weitwinkel sind da problematisch. Die beste Plattform für M-Objektive bleibt nun mal… schon klar, oder? M-Kameras.
Die Leica M EV1 soll auch eine Lösung für Fotografen sein, deren Sehvermögen sie daran hindert, einen Messsucher erfolgreich zu benutzen. Doch nicht etwa, dass die M EV1 das kameramäßige Pendant zu einem Rollator ist. Der elektronische Sucher in der Kamera ist ziemlich identisch mit dem aus der Leica Q3 und der ist exzellent. Mit Vergrößerung (Lupe) beim Fokussieren ist das bestimmt eine Erleichterung, gerade bei lichtstarken Optiken mit offener Blende.
Viele Reviews: Eine Evaluation

Da quasi stündlich neue Reviews dazukommen, kann ich kaum nachkommen, die einzeln auf Inhalt zu checken, aber die Hauptpunkte von für und wider sind überall ziemlich identisch, werden allerdings sehr unterschiedlich gewichtet.
Letzten Mittwoch habe ich bis in die Nacht Jonos Artikel zur Leica EV1 übersetzt (das funktioniert nicht einfach mit KI, da kommen öde Sachen heraus, wenn man nicht fast jeden Satz umformuliert und Fachbegriffe wie z.B. „Bildfeldwähler“ kennt KI nicht). Die Vor- und Nachteile sind sehr gut aufgelistet. Jono gibt ja selbst immer den Disclaimer, er schreibe keine Reviews, sondern er teste die Kameras für Leica. Aber auch er kann nicht umhin, unbewusst eine Wertung abzugeben (wenn man zwischen den Zeilen liest) und die deckt sich in großen Bereichen mit der Ansicht der meisten Reviewer.
Seither habe ich einige Reviews gelesen oder auf Youtube angesehen (offenbar hat Leica einen großen Teil der üblichen Verdächtigen nach Alba in Italien eingeladen, ihnen eine Leica M EV1 in die Hand gedrückt und das beste gehofft). Konsens war ausnahmslos, „one has to keep an open Mind“, was impliziert, das alle mit einer gewisse Skepsis angereist waren.
Ultimativ sind für alle die offensichtlichen Vorteile des direkten Blicks durchs Objektiv (ohne auf die konventionelle M11 einen Visoflex aufsetzen zu müssen) und die direkte Belichtungsvorschau mit einem hochwertigen elektronischen Sucher Grund genug für die Existenz der Kamera. „What you see is what you get“. Auch gestehen alle zu, dass die Leica M EV1 sich besonders für den Gebrauch der extrem lichtstarken Objektive (Noctilux etc.) bei Offenblende eignet, wo man mit dem traditionellen Messsucher unter Umständen Probleme hat.
Dann trennen sich die Meinungen auf. Und zwar abhängig davon, wie gut der- oder diejenige mit einem optischen Messsucher klarkommt. Die Reviewer mit „Messsucher-Bias“ (Jono äusserte sich auch dahingehend) stellen fest, wie viel langsamer der Prozess des Fokussierens gegenüber einem optischen Messsucher ist. Dass bewegte Szenen wie bei Street- oder Eventfotografie, auch bestimmte Reportagen über den Möglichkeiten der M EV1 liegen. Sie steht halt für eine ruhige, bedächtige Herangehensweise z.B. bei Porträts oder Landschafts-/Reisefotografie. Das Fokuspeaking wurde sehr häufig verrissen. Es sei zu ungenau und bei Weitwinkel-Objektiven oder auch mehr geschlossener Blende praktisch unbrauchbar. Inzwischen sei das echt „alte Technologie“ (Ich hatte das vor 12 Jahren schon im meiner M240. Da sollte sich inzwischen was getan haben). Schön wäre eine Alternative dazu (wie Nikon das bietet), aber solange kommt man besser ohne das klar.
Diese Gruppe sagte aber ganz klar im Fazit, dass sie sich die Leica M EV1 nicht kaufen würden, sondern bei ihrer Messsucher-M (meist M11) bleiben, auch in Zukunft. Richard von DPrieview rät jedem, besser eine Messsucher-M zu kaufen. Andere empfehlen als bessere Option den Kauf einer Leica SL3. Gute Plattform für M-Objektive, besserer Sucher und die Option, auch Autofokus-Objektive zu verwenden.
Zu dem Schluss kommen nicht alle, das ist eine zweite Fraktion. Namentlich nicht die, die unumwunden erklären, mit einem Messsucher nie warm geworden zu sein. Rafael Zeier (der war nicht in Alba) hat kein Problem damit, das zuzugeben und findet folglich das arbeiten mit dem EVF viel schneller und intuitiver, eben wegen all der genannten Vorteile beim direkten Blick durchs Objektiv. Natürlich vermisst er den Messsucher nicht, der nervt ihn ja nur. Er ist bei weitem nicht der einzige, der Messsucher als obsolet (oder wenig hilfreich) betrachtet. Der EVF macht das M-System für viele mehr „nahbar“.
Ungewohnt kritisch empfand ich Hugh Brownstone (Three Blind Men and an Elephant): Eigentlich tat er nur so, als fände er die Kamera gut. Neben dem üblichen Kritikpunkt der Langsamkeit des Fokussiervorgangs und der Unbrauchbarkeit von Fokus-Peaking (wieder Hinweis auf Nikons „state of the art“ Fokushilfe) erkannte er auch keinen praktischen Vorteil der M EV1 gegenüber einer M11 mit Visoflex. Und er wie alle anderen, die so eingestellt sind, dankte inbrünstig Leica, dass die M EV1 ein neuer, eigener Zweig ist und man nicht im Traum daran denkt, in Zukunft bei den M-Nachfolgern auf einen Messsucher zu verzichten. Dahingehend noch mal der Hinweis auf das Interview mit Stefan Daniel, das Bill Rosauer und Amitava Chatterjee geführt haben und in dem sich der „Executive Vice President Technology and Operations“ (was für ein Titel!) klar „Pro-Messsucher“ positioniert.
Ich selbst kann sehr gut mit dem Gedanken leben, dass die Leica M EV1 ihre Fans finden wird und sehe das Ganze so ziemlich wie die meisten, die die Kamera in Händen hielten. Warum nicht eine M mit EVF, sie ist ja auch nicht für Messsucher-Fans gebaut (die können sie doch gern ignorieren), andere wissen die Kamera sicher zu schätzen.

