Ein Beitrag von William Fagan

„Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert.“: So soll es Ernst Leitz II bei einer Sitzung vor 100 Jahren, im Juni 1924, gesagt haben. Was bedeutete, dass die von Oskar Barnack entwickelte und der Unternehmensleitung vorgestellte Kamera tatsächlich bei Ernst Leitz in Wetzlar hergestellt werden sollte. Das Treffen ist eine Legende, und es gibt heute keine offiziellen Aufzeichnungen darüber. Aber das Ergebnis ist höchst real. Und der berühmte Satz ist durch vielfache Wiederholung ja auch schon ein Stück Realität geworden.

Der genaue Tag des Treffens ist nicht bekannt. Aber es war wahrscheinlich vor der Patentanmeldung der Kamera, am 16. oder 17. Juni 1924. Die Legende besagt, dass das Treffen um 12.30 Uhr endete, weil für Ernst Leitz dann die Mittagspause begann, doch dazu später mehr. Dieser Artikel gibt einen kurzen chronologischen Überblick über die Ereignisse, die zu der Entscheidung vom Juni 1924 führten, jene Kamera zu produzieren, die schließlich als Leica bekannt wurde.

Oskar Barnack hatte eigentlich einen ganz anderen Auftrag

Im Jahr 1911 trat ein Mann namens Oskar Barnack, von der damals schon höchst renommierten optischen Firma Zeiss kommend, in das von Ernst Leitz II geleitete Unternehmen in Wetzlar ein. Er war ein Ingenieur, der mit verschiedenen Konstruktionsvorhaben betraut war, aber schon bald arbeitete er an einer experimentellen 35-mm-Kinofilm-Kamera.

Allerdings fand er, dass das ein großer, unhandlicher und wenig bedienerfreundlicher Apparat war. Zumal Barnack nicht ganz gesund und jedenfalls nicht topfit war. Während er jedoch an diesem Projekt arbeitete, baute er das als M875 bekannt gewordene Instrument. Das war ein Gerät, um auf einem kurzen Filmabschnitt die Belichtung einer Film-Szene schnell und kostengünstig zu prüfen. Und dieses Filmbelichtungsprüfgerät M875 hatte bereits das Aussehen, das uns heute so vertraut ist.

Ernst Leitz II, das Prüfgerät und die Ur-Leica

Es handelte sich dabei freilich nicht um einen Prototypen für die spätere Leica. Sondern um das eben beschriebene Gerät ausschließlich zum Testen der Belichtungswerte von Filmen, bevor diese in der eigentlichen Aufnahmekamera verwendet wurden. Der nächste große Schritt war die Ur-Leica. Sie war der Prototyp für jene Kleinbildkamera, die wir heute alle kennen. 

Ernst Leitz II machte sie möglich: Die Mutter aller Leica-Kameras.

Diese Kamera, die 1914 entstand, war ganz aus Metall gefertigt und verwendete einen 35-mm-Film mit einer Bildgröße von 24 mm x 36 mm. Das war deutlich größer als die bei Filmkameras verwendeten 18 mm x 24 mm. Sie verfügte über einen Verschluss, der beim Aufziehen der Kamera gespannt wurde. Von den späteren Automatikfunktionen war er aber noch ein gutes Stück entfernt war. Das Objektiv der Kamera war das 42-mm-Mikro Summar. Es war eigentlich für die Fotografie mit Mikroskopen entwickelt worden. Nun bekam es eine spezielle Fassung, um für normale Entfernungen tauglich zu sein.

Ernst Leitz II: Krieg und Frieden

Was geschah in den nächsten zehn Jahren? Wohl aufgrund von der Tatsache, dass der Erste Weltkrieg (in den angelsächsischen Ländern bezeichnenderweise der Große Krieg genannt) stattfand, passierte in Sachen Barnack-Kamera eine ganze Weile nicht viel. Leitz und Barnack nahmen die Kamera mit in den Urlaub und auf andere Reisen, und Barnack fotografierte seine Kinder.

Barnack schuf jedoch weitere Prototypen zu Testzwecken. Sein ganzes Arbeitsleben lang war er ein unermüdlicher Tester seiner Produkte. Bis zu seinem Tod im Jahr 1936 erprobte und verbesserte er seine Schöpfungen weiter.

Das 50-mm-Objektiv

Der nächste große Schritt war ein 50-mm-Objektiv, das mit einem Schneckengang fokussiert werden konnte und überdies als Anastigmat gerechnet war. Max Berek hatte die Entwicklung für um 1920 begonnen. Diese Optik kam in den legendären Kameras der Serie 0 zum Einsatz, die allerdings nicht verkauft wurden. Stattdessen wurden sie 1923 als Testkameras an 22 vertrauenswürdige Personen verteilt. 

Die unten abgebildete Kamera ging zunächst an Henri Dumur, einen leitenden Leitz-Manager, der mit der Familie Leitz verwandt war. Schließlich landete sie bei Barnack. Sie wurde mit der Gravur „Oscar Barnack“ versehen, möglicherweise von seinem Sohn Conrad, der auf dem obigen Familienfoto zu sehen ist. Diese Kamera wurde im Jahr 2022 für 14,4 Millionen Euro verkauft, ein Weltrekord für eine Kamera.

Nach all diesen Tests beschlossen Barnack und sein Team, darum zu kämpfen, dass die Kamera tatsächlich produziert würde. Die Unterlagen für die Patentanmeldung wurden vorbereitet. Es gibt kein Protokoll mit Datum und Uhrzeit der Sitzung, in der die Entscheidung zur Produktion der Kamera getroffen wurde. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass die Sitzung am oder vor dem Datum der Patentanmeldung für den neuen Verschluss stattfand, der nun selbstschließend war. Das Datum scheint entweder also Montag oder Dienstag, 16. oder 17. Juni 1924, gewesen zu sein. Darauf kommt man, wenn man britische und deutsche Patente zugrunde legt.

Ernst Leitz II entscheidet

Die folgenden Ausführungen basieren auf der Beschreibung in dem Buch „Oskar Barnack, Von der Idee zur Leica“ von Ulf Richter. Es ist im Buchhandel erhältlich.

Die Legende besagt, dass das Treffen am Morgen stattfand und über drei Stunden dauerte. Sie soll im Verwaltungsgebäude der Leitz-Fabrik stattgefunden haben, in einem Raum, der an das Büro von Ernst Leitz II angrenzte.

Die versammelten Mitarbeiter waren 

  • Ernst Leitz II
  • Henri Dumur
  • Oskar Barnack
  • Max Berek
  • August Bauer, Führungskraft aus dem Bereich Mechanik
  • Rudolf Zak, Führungskraft aus dem Bereich Optik
  • Michael Becker, Finanzen und Marketing 

Eine weitere Person, ein gewisser Alfred Turk, hatte zuvor Ernst Leitz II zustimmend beraten. Es gibt aber keine Beweise dafür, dass er bei dem Treffen anwesend war.

Nicht alle dachten wie Ernst Leitz II

In einer viel später ausgestrahlten Radiosendung zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 1951 (in diesem interessanten Beitrag sind Ausschnitte enthalten) beschrieb Ernst Leitz seinen Mitarbeiter Oskar Barnack als einen sehr intelligenten Mann, der die von ihm gebauten Geräte ständig verbesserte. Leitz berichtete, dass er eines dieser Geräte nach Amerika mitgenommen und zur Herstellung von Bildern verwendet hatte. 

Überraschenderweise berichtet er in der Sendung auch, dass die meisten der Anwesenden bei dem legendären Treffen 1924 gegen eine Serienproduktion waren. Man muss davon ausgehen, dass Barnack und Berek natürlich für ihre Entwürfe eintraten. Das würde bedeuten, dass die meisten anderen der oben genannten Personen gegen die Serienfertigung waren.

Ernst Leitz II und sein Basta-Entscheid

Leitz erinnert sich in der Sendung daran, dass es etwa in der Mitte des Tages war und dass keine Einigung erzielt worden war. Dann bemerkte er, dass es etwa 12.30 Uhr war. Und berichtete, dass er die Sitzung mit den Worten beendete: „Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert.“

Eine andere Legende besagt, dass Leitz in der Regel um diese Zeit sein Mittagessen einnahm und normalerweise durch einen Tunnel, der mit dem Verwaltungsgebäude verbunden war, zum Familiensitz, der Villa Friedwart, hinaufging. Der Tunnel wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und nie wieder geöffnet. Ich war zwar in dem Keller, wo er sich befand, aber nie im Tunnel selbst. Was ich in der Villa Friedwart zu sehen bekam, war das Silber der Familie Leitz, mit dem Ernst Leitz II möglicherweise nach seinem folgenschweren Satz sein Mittagessen einnahm.

Der Schauplatz: Das Reich von Ernst Leitz II

Wie sieht also der Ort der Entscheidungsfindung heute aus? 

Der Raum, in dem das Treffen stattfand, ist heute ein ganz normales Büro, und ich habe nur dieses Foto von Ed Schwartzreich, einem Kollegen von Macfilos, der in den Raum schaut. 

Viel interessanter ist, dass der angrenzende Raum, in dem Ernst Leitz sein Büro hatte, erhalten geblieben ist. Der derzeitige Nutzer des Gebäudes erzählte uns, dass der Tabakrauch vieler Jahre von den Wänden entfernt werden musste, um die schönen Holzarbeiten freizulegen. 

Das untere Foto unten zeigt die LSI-Mitglieder Ed Schwartzreich (links) und Jay Paxton (Mitte) beim Betreten des Raums, während der derzeitige Nutzer (rechts) etwas erklärt. Das Bild oben links zeigt die schöne Holzvertäfelung. Es gibt eine Durchreiche zu einem Sekretariat und ein Fenster mit Vorhängen, das zu einer kleinen Küche führt, von wo aus Essen serviert werden konnte. Das wirft natürlich die Frage auf, warum Ernst Leitz II für sein Mittagessen nach Hause gehen musste.

Im Frühjahr 1925 kam die Leica dann auf den Markt

Zurück zur Entscheidung für die Serienproduktion von Barnacks Kamera: Nachdem diese Frage geklärt war, dauerte es einige Zeit, bis das Produkt auf den Markt kam. Die kommerzielle Markteinführung fand jedenfalls auf der Leipziger Frühjahrsmesse im März 1925 statt.

Die erste Verwendung des Begriffs Leica (= LEItz + CAmera) war in dieser Anzeige vom Mai 1925. Der Rest ist Geschichte, abgesehen von einer Menge harter Arbeit von Barnack und seinem Team und ihren Nachfolgern.

Die Herstellung von Leica-Kameras läuft bis heute, 100 Jahre nach der ersten Entscheidung, die Ernst Leitz II so verkündet haben soll: „Wir machen Schluss. Ich entscheide hiermit, es wird riskiert.“

Der Autor: William Fagan gilt als einer der besten Kenner der Unternehmens- und Technikgeschichte im Bereich Fotografie, insbesondere der Messsucherfotografie. Zudem gilt er als einer der besten Kenner von Auktionen zu Photographica. Er ist überdies Experte für die Geschichte der Fotografie in Irland. Er ist Beiratsmitglied im Photo Museum Ireland. Seine Beiträge erscheinen regelmäßig auf unserem Schwester-Blog Macfilos.

Übersetzung dieses Beitrags: Jörg-Peter Rau

3 Kommentare

  1. Joachim Simon

    Lieber Herr Rau
    Danke für die Übersetzung. Es gibt aber einen Aspekt, der in dieser Geschichte viel zu kurz kommt. Es gab zu der Zeit keinen konfektionierten Film in diesem Format und die Qualität war auch noch relativ schlecht. Man behalf sich mit dem so genannten Fliegerfilm Deshalb gibt es in den alten Kameras die Messing Spulen und das Zubehör, um Filme selber in die Patrone zu wickeln. Der Erfolg der Kamera hing im Wesentlichen davon ab dass die Industrie auf das Format einsteigt und konfektionierte Filme in verbesserter Qualität und vor allem in den bekannten einfach-Patronen anbietet. Das war zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich klar und wir haben viele Beispiele gesehen, wo gute Produkte mit überragender Technologie genau an dieser Vernetzung gescheitert sind, zum Beispiel die Tonträger Kassetten, Video 2000, SA CD etc. Und viele andere Geräte auch. Nicht zuletzt hat Leica das auch selber gesehen, als es keine Batterien mehr für das R9 DMR gab und das viele Kunden wahnsinnig verärgert hat. Also ja, es war eine mutige, technologische Entscheidung, aber entweder war es Glück oder einer gekonnte Vernetzung in der Industrie. Auf jeden Fall war es wesentlich mehr als nur das Kameragehäuse.
    Gruss Joachim Simon

  2. Joerg-Peter Rau

    Lieber Holger, herzlichen Dank für Deine Rückmeldung. Der Dank gilt William Fagan aus Dublin, der den Text exklusiv im deutschsprachigen Raum für die Messsucherwelt zur Verfügung gestellt hat. William ist einer von Europas führenden Experten für vor allem die frühere Leica-Geschichte, und ihn hier als Autor zu Gast zu haben, ist eine echte Ehre. Mein Beitrag beschränkt sich aufs Übersetzen. Viele Grüße, Jörg-Peter

  3. Holger Bohnensack

    Hallo Jörg-Peter, danke für diesen Beitrag. Auch wenn ich schon viele Leica-Bücher und viel über die Leica-Geschichte gelesen habe macht es immer wieder Spaß über die Anfänge der Leica zu lesen.
    Viele Grüße Holger

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